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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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entschlösse!
    Taxis II (30. 12. 1916), 500 f.
    Es geht mir jetzt damit, wie es mir als Knabe in der Turnstunde ging, – ich nehme einen rasenden Anlauf –, aber ich kann nicht springen. Ich bin in einer krankhaften Starrheit des Denkens, Fühlens und Thuns, le temps me regar
de de son mauvais œuil et sous ce regard je ne peux plus bouger . Gott, wir leiden ja alle das Gleiche, Enorme, und so ists keine Entschuldigung, darauf hinzuweisen, sondern höchstens ein Eingeständnis der eigenen Schwäche wenn man nicht irgendwie sein Quand-même findet und es den Umständen entgegenhält. Ich bin zu sehr an einen Einklang mit dem großen Ganzen gewöhnt gewesen, um aus dem einzelnen Trotzdem heraus dauernd existieren zu können –, aber ich verstehe jetzt, wie Menschen und Thiere eingehen können, wenn sie in ihrer ganzen Umwelt kein Ding mehr haben, das sie kennen; was ist uns noch bekannt in dieser entstellten Zeit?, und, das Schlimmste, daß sie mir auch zurück, in meine wunderbare Vergangenheit hinein, alle Gefühle und Aufschwünge und Herrlichkeiten bestreitet und widerruft, ja sie verwüstet mir meine Erinnerung, wie sie mir meine Gegenwart zum Anstehn bringt. Ist das alles nur Schwäche, was ich damit zugebe?
    Der Winter für mich in diesem kleinen, von lauter Sorgen abgenutzten Hôtelzimmer war eine Pein und München wird immermehr ein Greuel für mich; ich stoße Schreie aus nach allen Seiten, ob nicht einer der Freunde mir eine ländliche Zuflucht geben will, wo ich im leidenschaftlichsten Anschluß an die Jahreszeit, eine festere Stelle innerer Besinnung gewinnen könnte, – – aber die Antworten auf diese Schreie sind so wenig aussichtsvoll, daß Sie mich wohl in der zweiten Hälfte des April noch hier denken dürfen. Auch Kassner wird, soviel ich weiß, hier sein, ich konnte ihn nicht am Telephon erreichen, sehe ihn erst Montag. Er war auch nicht sehr frisch über seiner immer wieder umgegossenen Arbeit, war ein paar Wochen in Oberstdorf, seine Frau ist jetzt in Wien und bleibt, soviel ich weiß, längere Zeit weg. Aber denken Sie, meine Schwere
und Schwermüthigkeit war so groß, daß ich auch Kassner monatelang nicht zu sehen vertrug, das Gespräch, selbst mit ihm, drängt immer wieder zu dem Gegenwärtigen, von dem ich nichts verstehe und wenn man dann plötzlich entdeckt, wie man mit den Ausdrücken der Zeitung (denn, was hat man anderes?) sich unterhält, so ergreift einen Ekel und Grauen vor dem eigenen Munde.
    Taxis II (30. 3. 1918), 540 f.
    Meine verehrte gnädigste Baronin,
    für die lange Unverbundenheit bin ich auf das Schönste entschädigt, durch Ihren gestern eintreffenden guten Brief, der mir dadurch besondere Freude macht, daß er ins Vorweihnachtliche fällt, in diese Adventtage, wo ein liebes Gedenken die innere Erwartung nicht allein stillt, sondern auch ein klein wenig feierlich beschenkt. Aus diesem Beschenktsein heraus lassen Sie mich Ihnen gleich mit ein paar Worten danken.
    Ihre Nachrichten, ob sie gleich aus einem in die schwerste Trauer gestürzten Hause kommen, beruhigen mich freundlich über Ihr eigenes und nächstes Ergehen; ganz besonders weiß ich es mitzufühlen, daß die Rückkehr Baron Ledeburs nun endlich wieder ein wirklich gemeinsames Leben erlaubt! Daß es absehbar sei, wagt wohl keiner von dem seinigen zu versichern, denn wo man früher während der letzten grausamen Jahre zwei Begriffe hatte: Krieg und Frieden, da ist jetzt alles in ein Durcheinander anonymer Bruchstücke auseinandergefallen, die der Einzelne sich nirgends zu verbinden vermag.
    Ich gestehe, daß ich zu dem Umsturz selbst zuerst eine gewisse rasche und freudige Zuversicht zu fassen vermocht habe, denn seit ich denken kann, habe ich der Menschheit
nichts dringender gewünscht, als daß sie irgendwann eine ganz neue Seite der Zukunft aufzuschlagen ermächtigt sein möge, auf die nicht die ganze Fehlersumme der verhängnisvollen Vergangenheiten übertragen werden muß. Die Revolution schien mir ein solcher begabter Moment zu sein. Aber er ist von einer so zufälligen und im Tiefsten unbegeisterten Minderheit erfaßt und ausgeübt worden, – der Geist versuchte erst nachträglich einzutreten und einzudringen, und auch dieser war nur Geist dem Namen nach und hatte keine Jugend und kein überzeugendes Feuer

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