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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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in seiner Natur. Vielleicht sind Revolutionen nur möglich in sehr vollblütigen Augenblicken, jedenfalls nicht nach einem mehr als vierjährigen Aderlaß. Dadurch, daß wir den Frieden nie im Ganzen gesehen haben, sondern nur die tausend Stücke auflesen, in die er, aus allen Händen fallend, zersprungen ist, sind wir, jeder einzelne, um das tiefe Aufatmen gekommen, das uns versprochen zu sein schien. Nach den unbeschreiblichen Leistungen und Nöten des Krieges wäre ein Moment der Sicherheit und Ruhe das Unentbehrlichste gewesen, man begreift nicht, wie an die angespannten Leistungen der Feldzüge sich jetzt die enorme Leistung, die fortwährend nötig ist, anschließen soll. Übrigens versteh ich unter Revolution die Überwindung von Mißbräuchen zugunsten der tiefsten Tradition, und bei solcher Auffassung seh ich, wie Sie sich vorstellen können, dem Heutigen und Morgigen mit der größten Besorgnis zu. Immerhin lassen Sie uns, jeder auf seiner kleinen Stelle, eine innige Hoffnung pflanzen. Meine Neigung ist jetzt mehr denn je, zu tun, was ich wirklich kann, ganz entgegen dem Rufe der Zeit, die alle von ihrem eigentlichen Können fort in einen politischen Dilettantismus verführen möchte.
    Verbringen Sie, liebe und verehrte Baronin, ein gutes
Fest; das meine, stille und einsame, wird schöner dadurch, daß ich Ihnen das Ihrige wünschen darf.
    In der größten dauernden Ergebenheit
Ihr Rilke
    Briefe zur Politik (Dorothea Freifrau von Ledebur,
19. 12. 1918), 236-238
    Mein inneres Gärtnern war herrlich diesen Winter. Das plötzlich wieder heile Bewußtsein meiner tief bestellten Erde ergab mir eine große Jahreszeit des Geistes und eine lange nicht mehr gekannte Stärke des Herzstrahles. Die mir über alles lieben (1912 in großartiger Einsamkeit begonnen und seit 1914 fast ganz unterbrochenen) Arbeiten konnten wieder aufgenommen –, konnten, unter unendlicher Fähigkeit, zu Ende gebracht werden. – Daneben ging eine kleine Arbeit her, fast ungewollt, ein Nebenstrom, über fünfzig Sonette, die Sonette an Orpheus genannt, und geschrieben als ein Grabmal für ein jung verstorbenes Mädchen. (Sieben daraus hab ich für Sie in ein kleines Heft eingetragen, das ich hier beifüge.) Wäre diese Auswahl größer geworden, oder könnte ich Ihnen die andere, die große Hauptarbeit vorlegen, – Sie würden merken, wie, an manchen Stellen, die Ergebnisse unserer Winter einander ähnlich sind. Sie schreiben von dem in jedem Moment schon Erfülltsein, schon Überreichsein des inneren Daseins, von einem (wenn man nur recht zusieht) alle später möglichen Entbehrungen und Verluste schon von vornherein überwiegenden und gleichsam widerlegenden – Besitz. – Genau dies habe ich diesen langen Winter in der Tiefe meiner Arbeit erfahren, mehr und unwiderruflicher, als ich es bisher wußte: daß das Leben jedem späteren Armwerden mit den seine Maße übertrefflichsten Reichtümern schon längst
zuvorgekommen sei. – Was also bliebe zu fürchten? – Nur, daß man dies vergäße! Aber um uns, in uns, wieviel Hülfen zur Erinnerung!
    Briefe II (Lisa Heise, 19. 5. 1922), 358
    Ihr ganzer mühsamer und unerbittlicher Winter, in seiner Härte, muß wie eine Art gefrorener Frohheit gewesen sein, ein Block reiner starker Zukunft, der sich nun gelöst hat (wünsch ich), flutend, rauschend, in den Frühling hinein.
    Briefe II (Lisa Heise, 19. 5. 1922), 357
    Â 
    Â 
    Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im künftigen sich zum Geschenk.
    Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt
uns von den alten, den vergangnen Jahren?
Was haben wir seit Anbeginn erfahren,
als daß sich eins im anderen erkennt?
    Als daß an uns Gleichgültiges erwarmt?
O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,
auf einmal bringst du's beinah zum Gesicht
und stehst an uns, umarmend und umarmt.
    Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
    Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.
    Werke II ,

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