Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Gardiner’s Corner führte die Leman Street keine halbe Meile entfernt direkt nach Süden, Richtung Cable Street, doch die Straße war verstopft von Protestierenden, die sich Kämpfe mit der Polizei lieferten. Lloyd war gezwungen, einen Umweg zu nehmen. Er kämpfte sich durch die Menge nach Osten bis zur Commercial Street. Aber auch hier kam er kaum leichter voran. Zwar gab es hier keine Polizei und deshalb keine Gewalttätigkeiten, doch die Leute standen genauso dicht. Es war ein ermüdendes Vorankämpfen, aber Lloyd tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Polizei diese Menge niemals würde überwinden können.
Er fragte sich, was Daisy tat. Vielleicht saß sie im Wagen, wartete, dass der Aufmarsch begann, und tappte mit der Spitze ihres teuren Schuhs ungeduldig auf den Teppichboden des Rolls-Royce. Der Gedanke, dass er half, ihre Ziele zu vereiteln, erfüllte Lloyd mit einem Gefühl gehässiger Befriedigung.
Mit Beharrlichkeit und wenig Rücksichtnahme schob Lloyd sich durch die Menschenmassen. Die Bahnstrecke, die dem Nordrand der Cable Street folgte, zwang ihn zu einem weiteren Umweg, bis er auf eine Seitenstraße stieß, auf der er durch einen Fußgängertunnel unter den Gleisen hindurch zur Cable Street gelangte.
Hier stand die Menge nicht so dicht, aber die Straße war schmal. Wieder kam Lloyd nur mit Mühe weiter, was aber auch sein Gutes hatte, denn auch für die Polizei gab es hier kein rasches Vorwärtskommen. Dann stieß er auf ein weiteres Hindernis: Ein Lastwagen war quer auf die Straße gestellt und umgekippt worden. Auf beiden Seiten des Lkw hatten die Protestierenden die behelfsmäßige Straßensperre mit alten Tischen, Stühlen, Brettern, Balken und aufgetürmtem Müll auf die gesamte Straßenbreite erweitert.
Eine Barrikade! Lloyd musste an die Französische Revolution denken. Nur dass dies hier keine Revolution war. Die Bewohner des Eastends wollten die britische Regierung nicht stürzen. Im Gegenteil, sie wollten ihre Abgeordneten und ihr parlamentarisches System vor dem Faschismus schützen, wenn diese sich selbst schon nicht wehren konnten.
Lloyd stellte sich auf eine Mauer, um bessere Sicht über das Hindernis zu bekommen. Ihm bot sich eine lebhafte Szene dar. Auf der anderen Seite des umgestürzten Lkw versuchten Polizisten, die Barrikade niederzureißen. Sie trugen zerbrochene Möbel fort und schleppten alte Matratzen zur Seite. Leicht gemacht wurde es ihnen allerdings nicht, denn ein Hagel von Wurfgeschossen ging auf sie nieder, die teils über die Barrikade geschleudert wurden, teils aus den Fenstern in den oberen Etagen der Häuser auf beiden Straßenseiten flogen: Steine, Milchflaschen, zerbeulte Töpfe und Ziegelsteine, die von einem Bauhof in der Nähe stammten, wie Lloyd sah. Mehrere waghalsige junge Männer standen auf der Barrikade und schlugen mit langen Stöcken nach den Beamten, und hin und wieder entbrannte ein Kampf, wenn die Polizisten einen der Protestler herunterzerren wollten. Lloyd zuckte zusammen, als er zwei der jungen Männer auf der Barrikade erkannte: Der eine war sein Vetter Dave Williams, der andere Lenny Griffiths aus Aberowen. Seite an Seite wehrten sie die Polizisten mit Schaufeln ab.
Doch je mehr Zeit verging, desto deutlicher erkannte Lloyd, dass die Polizisten den Kampf gewinnen würden. Sie gingen systematisch vor, trugen die Barrikade Stück für Stück ab und schleppten das Material davon. Auf Lloyds Seite der Straßensperre verstärkten die Protestierenden zwar den Wall und ersetzten, was die Polizei forträumte, aber sie waren schlecht organisiert, und der Nachschub an Material geriet ins Stocken. Lloyd hatte den Eindruck, als würden die Polizisten die Barrikade sehr bald durchbrechen. Und wenn sie dann die Cable Street räumten, würden die Faschisten diese Straße entlangmarschieren, vorbei an einem jüdischen Geschäft nach dem anderen.
Doch völlig hoffnungslos war die Lage nicht: Als Lloyd einen Blick hinter sich warf, entdeckte er, dass die Verteidiger der Cable Street vorausdachten. Noch während die Polizei die erste Barrikade beseitigte, wurde wenige Hundert Yards die Straße hinunter die nächste errichtet.
Lloyd zog sich zurück und half beim Aufbau der zweiten Straßensperre. Hafenarbeiter schlugen mit Spitzhacken das Pflasterauf; Hausfrauen brachten Mülltonnen aus den Höfen der Häuser; Ladenbesitzer schleppten leere Fässer und Kisten herbei. Lloyd half beim Transport einer Parkbank und riss vor einem städtischen Gebäude
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