Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Mann.«
Lloyd starrte sie fassungslos an. Nie hätte er gedacht, dass sie so dumm sein könnte. Für den Moment war er sprachlos.
»Doch, es ist wahr.« Daisy musste ihm seine Ungläubigkeit angesehen haben. »Haben Sie denn nicht unsere Verlobungsanzeige in der Zeitung gelesen?«
»Ich lese niemals den Gesellschaftsteil.«
Daisy zeigte ihm ihre linke Hand mit dem brillantenen Verlobungsring und dem goldenen Ehering. »Wir haben gestern geheiratet. Unsere Flitterwochen haben wir verschoben, um an dem Aufmarsch heute teilzunehmen. Morgen fliegen wir in Boys Flugzeug nach Deauville.«
Sie ging die letzten Schritte zum Wagen, und der Chauffeur öffnete ihr den Schlag. »Nach Hause, bitte«, sagte sie.
»Jawohl, Mylady.«
Lloyd war so wütend, dass er am liebsten jemanden verprügelt hätte.
Daisy blickte über die Schulter. »Auf Wiedersehen, Mr. Williams.«
Lloyd fand seine Stimme wieder. »Auf Wiedersehen, Miss Peshkov.«
»Oh, nein«, sagte sie. »Ich heiße jetzt Viscountess Aberowen.«
Lloyd hörte deutlich ihren Stolz heraus. Der Adelstitel schien ihr wichtiger zu sein als alles andere.
Sie stieg in den Wagen, und der Chauffeur schloss die Tür.
Lloyd wandte sich ab. Beschämt bemerkte er, dass er Tränen in den Augen hatte.
»Zum Teufel«, sagte er.
Er schniefte und schluckte die Tränen herunter. Dann straffte er die Schultern und ging raschen Schrittes Richtung Eastend. Doch der Triumph des heutigen Tages war ihm vergällt. Er wusste, dass es dumm von ihm war, überhaupt noch einen Gedanken an Daisy zu verschwenden – er bedeutete ihr offenkundig nichtsmehr –, doch es brach ihm das Herz, dass sie sich an Boy Fitzherbert verschwendete.
Entschlossen schob er den Gedanken an Daisy beiseite.
Die Polizisten zogen sich zu ihren Mannschaftsbussen zurück und verließen den Schauplatz der Straßenschlacht. Die Brutalität der Polizei hatte Lloyd nicht überrascht – er hatte sein ganzes Leben im rauen Eastend verbracht –, aber ihr Antisemitismus hatte ihn erschreckt. Sie hatten jede Frau eine Judenhure genannt, jeden Mann einen Judenlümmel. In Deutschland hatte die Polizei die Nazis unterstützt und sich auf die Seite der Braunhemden gestellt. Würde hier das Gleiche geschehen? Bestimmt nicht!
Die Menschenmenge an Gardiner’s Corner war in Jubel ausgebrochen. Die Kapelle der Jewish Lads’ Brigade spielte Tanzmusik, zu der sich Paare im Kreis drehten. Flaschen mit Whisky und Gin gingen von Hand zu Hand. Lloyd beschloss, ins London Hospital zu fahren und nach Millie zu sehen. Danach würde er den Jüdischen Volksrat aufsuchen und Bernie schonend beibringen, dass Millie verletzt worden war.
Doch ehe Lloyd sich auf den Weg machen konnte, kam Lenny Griffiths auf ihn zu. »Den Mistkerlen haben wir’s gezeigt!«, rief er übermütig.
»Ja, das haben wir.« Lloyd grinste.
Lenny senkte die Stimme. »Hier haben wir die Faschisten besiegt. Jetzt machen wir’s in Spanien genauso.«
»Wann brecht ihr auf?«
»Morgen. Dave und ich nehmen in der Frühe einen Zug nach Paris.«
Lloyd legte Lenny den Arm um die Schultern. »Ich komme mit«, sagte er.
K A P I T E L 4
1937
Wolodja Peschkow zog die Schultern hoch, als er im dichten Schneetreiben die Moskwa überquerte. Er trug einen langen, dicken Mantel, eine Pelzmütze und schwere, feste Lederstiefel. Nur wenige Moskowiter waren so gut gekleidet. Wolodja hatte Glück.
Er hatte immer gute Stiefel. Grigori, sein Vater, war Armeekommandeur, allerdings kein Überflieger. Obwohl Grigori ein Held der bolschewistischen Revolution gewesen war und Stalin persönlich kannte, hatte seine Karriere in den Zwanzigerjahren einen Knick bekommen. Trotzdem war es seiner Familie stets gut gegangen.
Wolodja hingegen war ein Überflieger. Nach der Universität hatte er die prestigeträchtige Akademie der GRU besucht, des militärischen Nachrichtendienstes der Roten Armee. Ein Jahr später hatte er einen Posten in der Zentrale dieser Organisation übernommen.
Wolodjas größter Glücksfall jedoch war gewesen, Werner Franck in Berlin kennenzulernen, als sein Vater dort als Militärattaché an der sowjetischen Botschaft gedient hatte. Werner hatte dieselbe Schule besucht wie Wolodja, das Leopold-von-Ranke-Gymnasium, allerdings ein paar Klassen unter ihm. Nachdem Wolodja erfahren hatte, dass Werner den Faschismus hasste, hatte er ihn davon überzeugt, dass er die Nazis am besten bekämpfen könne, wenn er für die Russen spionierte.
Damals war Werner vierzehn
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