Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
breitete in einer Geste der Ratlosigkeit die Arme aus.
Macke überquerte die Straße. »Was ist?«
Wagner sagte verzweifelt: »Er ist nicht da.«
»Haben Sie überall gesucht?«
»Ja, auch auf der Toilette und in der Küche.«
»Haben Sie gefragt, ob ihn jemand hat rausgehen sehen?«
»Angeblich keiner.«
Wagner hatte allen Grund, Angst zu haben. Dies hier war das neue Deutschland, und Fehler wurden nicht mehr mit einem Klaps auf die Hand bestraft. Versagen konnte ernste Folgen haben.
Aber diesmal nicht. »Schon in Ordnung«, sagte Macke.
Wagner konnte seine Erleichterung nicht verbergen. »Wirklich?«
»Ja, denn wir haben etwas Wichtiges erfahren«, erklärte Macke. »Dass der Mann uns so einfach abschütteln konnte, verrät uns, dass er ein Agent ist … und zwar ein ziemlich guter.«
Wolodja betrat den Bahnhof Friedrichstraße und stieg in die U-Bahn. Dann zog er die Kappe, die Brille und den schmutzigen Mantel aus, die ihm geholfen hatten, wie ein alter Mann auszusehen. Er setzte sich, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das Pulver von den Schuhen, das er daraufgestreut hatte, um sie möglichst schäbig erscheinen zu lassen.
Mit dem Regenmantel war Wolodja sich nicht ganz sicher gewesen. Es war ein schöner Tag; deshalb hatte er befürchtet, der Gestapo würde es auffallen. Aber so klug waren sie offenbar nicht. Außerdem war ihm niemand aus der Kneipe gefolgt, nachdem er sich auf der Herrentoilette umgezogen hatte.
Wolodja hatte etwas sehr Gefährliches vor. Wenn sie ihn dabei erwischten, wie er Kontakt zu einem deutschen Dissidenten aufnahm, konnte er von Glück sagen, wenn er nach Moskau deportiertwurde, wo seine Karriere dann in Trümmern läge. Hatte er weniger Glück, würden er und der Dissident im Keller des Gestapo-Hauptamts an der Prinz-Albrecht-Straße landen, und niemand würde sie je wiedersehen. Die Sowjets würden sich beschweren, dass einer ihrer Diplomaten verschwunden war, und die deutsche Polizei würde vorgeben, nach ihm zu suchen, um dann bedauernd zu erklären, ihn nicht gefunden zu haben.
Natürlich war Wolodja noch nie in der Gestapo-Zentrale gewesen, aber er konnte sich in etwa denken, was ihn dort erwarten würde. Der NKWD hatte eine ähnliche Anlage in der sowjetischen Handelsmission in der Lietzenburger Straße: Stahltüren; ein Verhörzimmer mit gefliesten Wänden, sodass man das Blut leicht abwaschen konnte; eine Wanne, in der man die Leichen zerlegte, und ein elektrischer Ofen, in dem die Teile verbrannt wurden.
Wolodja war nach Berlin geschickt worden, um hier das sowjetische Spionagenetz auszubauen. Der Faschismus triumphierte in Europa, und Deutschland war mehr denn je eine Bedrohung für die UdSSR . Stalin hatte seinen Außenminister Litwinow gefeuert und durch Wjatscheslaw Molotow ersetzt. Aber was konnte Moskau tun? Nichts und niemand schien die Faschisten aufhalten zu können. Der Kreml wurde von der demütigenden Erinnerung an den Großen Krieg heimgesucht, als Deutschland eine russische Armee von sechs Millionen Mann besiegt hatte. Stalin hatte versucht, mit Frankreich und Großbritannien einen Pakt zu schmieden, um die Deutschen in die Schranken zu weisen, aber die drei Mächte hatten sich nicht einigen können, und so waren die Verhandlungen vor ein paar Tagen ergebnislos abgebrochen worden.
Früher oder später musste mit einem Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion gerechnet werden, und es war Wolodjas Aufgabe, genug Informationen zu sammeln, um der Sowjetunion in diesem Konflikt einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen.
Er stieg in Wedding aus, einem ärmlichen Arbeiterviertel nördlich des Stadtzentrums von Berlin. Vor dem Bahnhof blieb er stehen und wartete. Er tat so, als würde er den Fahrplan an der Wand studieren, beobachtete aber die anderen Passagiere, die das Bahnhofsgebäude verließen. Erst als er sicher war, dass niemand ihn im Blick hatte, setzte er sich wieder in Bewegung.
Er ging zu der schäbigen Gaststätte, die er sich als Treffpunkt ausgesucht hatte. Wie jedes Mal ging er nicht direkt hinein, sondern stellte sich einen Moment an eine Bushaltestelle und beobachtete den Eingang. Er war sicher, nicht verfolgt worden zu sein; aber er musste sich davon überzeugen, dass auch Werner nicht beschattet wurde.
Wolodja wusste nicht, ob er Werner Franck auf Anhieb wiedererkennen würde. Schließlich war Franck erst vierzehn Jahre alt gewesen, als Wolodja ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Mittlerweile war er zwanzig. Werner
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