Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Garderobenständer auf den Boden fallen.
»Wer ist denn da?«, hörte er aus der Küche die Stimme seines Stiefvaters.
Lloyd bekam kein Wort heraus.
Bernie erschien in der Diele. »Wer …«, setzte er an. »Meine Güte! Du!«
»Hallo, Dad«, sagte Lloyd.
»Mein Junge!« Bernie schloss ihn in die Arme. »Du lebst.«Lloyd spürte, wie die Schultern seines Stiefvaters zuckten. Schließlich wischte Bernie sich die Augen mit dem Ärmel seiner Strickjacke ab und ging zur Treppe. »Eth!«, rief er hinauf.
»Ja?«
»Jemand will dich sehen.«
»Augenblick.«
Sekunden später kam sie die Treppe herunter, schön wie immer in einem blauen Kleid. Auf halbem Weg erkannte sie Lloyd und wechselte die Farbe. »Oh, Duw! «, rief sie. »Lloyd!« Sie eilte die restlichen Stufen hinunter, so schnell sie konnte, und umarmte ihn stürmisch. »Du lebst!«
»Ich habe euch aus Barcelona geschrieben …«
»Dann haben wir den Brief nie bekommen.«
»Also wisst ihr gar nicht …« Lloyd stockte.
»Was?«
»Dave Williams ist tot.«
»O nein!«
»Er ist in der Schlacht von Belchite gefallen.« Lloyd hatte beschlossen, niemandem zu erzählen, wie Dave wirklich gestorben war.
»Und Lenny Griffiths?«
»Das weiß ich nicht. Wir wurden getrennt. Ich hatte gehofft, er wäre vielleicht vor mir nach Hause gekommen.«
»Davon wissen wir nichts«, sagte Ethel.
»Wie war es denn da drüben?«, wollte Bernie wissen.
»Die Faschisten sind auf der Siegerstraße«, antwortete Lloyd voller Bitterkeit. »Und schuld daran sind vor allem die Kommunisten. Denen geht’s eher darum, die anderen linken Parteien fertigzumachen als die Faschisten.«
»Das kann nicht sein«, sagte Bernie betroffen.
»So ist es aber. Wenn ich in Spanien eine Lektion gelernt habe, dann die, dass wir die Kommunisten genauso hart bekämpfen müssen wie die Faschisten. Beide sind schlecht.«
Ethel lächelte schief. »Sag bloß.« Lloyd erkannte, dass seine Mutter schon vor langer Zeit zu dem gleichen Schluss gelangt war.
»Lasst uns nicht mehr über Politik reden«, sagte er. »Wie geht’s dir, Mam?«
»Hier ist alles beim Alten, aber wenn ich dich so anschaue … du bist sehr mager geworden.«
»In Spanien gab es nicht viel zu essen.«
»Ich mach dir was.«
»Nur keine Eile. Ich habe zwölf Monate gehungert, da werde ich ein paar Minuten schon noch aushalten. Aber weißt du, worüber ich mich wirklich freuen würde?«
»Sag schon.«
»Ich hätte gern eine schöne Tasse Tee.«
K A P I T E L 5
1939
Thomas Macke beobachtete die sowjetische Botschaft, als Wolodja Peschkow aus der Eingangstür kam.
Die Politische Polizei Preußens war vor sechs Jahren in die weitaus effizientere Geheime Staatspolizei, kurz »Gestapo«, umgewandelt worden, doch Kriminalinspektor Macke leitete noch immer die Abteilung, die mit der Überwachung verräterischer und subversiver Elemente in Berlin betraut war. Die gefährlichsten von ihnen erhielten ihre Befehle zweifellos aus dem Gebäude Unter den Linden 63–65. Deshalb observierten Macke und seine Leute jeden, der hier ein und aus ging.
Die Botschaft war ein festungsähnliches Gebäude im Stil des Art déco aus weißem Stein, der das Licht der Augustsonne beinahe schmerzhaft hell reflektierte. Eine Laterne wachte über den zentralen Block, und beide Flügel zierten hohe, schmale Fenster, die an Wachsoldaten in Habachtstellung erinnerten.
Macke saß im Café gegenüber der Botschaft. Auf Berlins elegantestem Boulevard herrschte reges Treiben: Auf der Straße wimmelte es von Autos und Fahrrädern; die Frauen flanierten in Sommerkleidern von einem Geschäft zum anderen, und die Männer trugen Anzug oder frisch gestärkte Uniformen. Man konnte kaum glauben, dass es noch deutsche Kommunisten gab. Aber wieso auch? Wie konnte jemand gegen die Nazis sein? Deutschland hatte sich verändert. Hitler hatte die Arbeitslosigkeit besiegt – eine Leistung, die kein anderer europäischer Staatschef vorweisen konnte. Streiks und Demonstrationen waren nur noch Erinnerungen an die schlimme alte Zeit. Und die Polizei verfügte über nahezu uneingeschränkte Vollmachten, um gegen Verbrecher vorzugehen. Deutschland erlebte eine Blütezeit: Viele Familien besaßen einRadio, und schon bald würden die Deutschen in eigenen Autos über die neuen Autobahnen fahren.
Und das war noch nicht alles. Deutschland war wieder stark. Das Militär war gut bewaffnet und schlagkräftig. In den vergangenen zwei Jahren waren zuerst Österreich, dann die
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