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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Bobrow.
    Benommen wurde Lloyd bewusst, was das bedeutete: Vermutlich würde er Kriegsgefangene im Zug nach Barcelona begleiten. Er schwankte. Im Augenblick hätte er nicht einmal die Kraft gehabt, eine Schafherde zu hüten.
    »Rückzug unter Feuer ohne ausdrücklichen Befehl ist Desertion«, erklärte Bobrow.
    Lloyd drehte sich zu ihm um. Zu seinem Entsetzen hatte Bobrow den Revolver gezogen. Nun trat er vor, sodass er direkt hinter den drei Unverwundeten stand, die noch immer strammstanden. »Ich befinde euch drei für schuldig und verurteile euch zum Tode«, sagte Bobrow und hob die Waffe, bis der Lauf nur noch drei Zoll von Daves Kopf entfernt war.
    Er drückte ab.
    Ein lauter Knall. Ein Kugelloch erschien in Daves Kopf. Blut und Hirnmasse spritzten aus seiner Stirn.
    Lloyd konnte nicht fassen, was er sah.
    Muggsy, der neben Dave gestanden hatte, wollte sich zu Bobrow umdrehen, den Mund zu einem Schrei geöffnet, aber der Russe war schneller. Er riss die Waffe herum, richtete sie auf Muggsys Hals und drückte erneut ab. Die Kugel drang hinter Muggsys rechtem Ohr ein und trat am linken Auge wieder aus. Wie vom Blitz getroffen brach Muggsy zusammen.
    Endlich fand Lloyd seine Stimme wieder. »Nein!«, schrie er.
    Joe Eli fuhr zu Bobrow herum, brüllend vor Schock und Wut. Er hob die Hände, um den Russen zu packen. In diesem Moment dröhnte die Waffe erneut. Joe wurde in den Hals getroffen. Eine Blutfontäne schoss aus seiner Kehle und bespritzte Bobrows russische Uniform. Der Oberst fluchte und sprang einen Schritt zurück. Joe fiel zu Boden, starb aber nicht sofort. Hilflos beobachtete Lloyd, wie das Blut aus Joes Halsschlagader auf die verbrannte spanische Erde spritzte. Joe schien etwas sagen zu wollen, brachte aber kein Wort heraus. Dann schloss er die Augen und lag ganz still.
    »Für Feiglinge gibt es keine Gnade«, erklärte Bobrow und stapfte davon.
    Lloyd blickte auf Dave: dünn, verdreckt und tapfer wie ein Löwe. Er war nur sechzehn Jahre alt geworden. Getötet nicht von den Faschisten, sondern von einem stumpfsinnigen, brutalen Sowjetoffizier.
    Was für eine Verschwendung, dachte Lloyd. Tränen traten ihm in die Augen.
    In diesem Moment kam ein Unteroffizier aus der Scheune gelaufen. »Sie haben sich ergeben!«, rief er jubelnd. »Die Stadt hat kapituliert! Sie haben die weiße Fahne gehisst! Wir haben Belchite eingenommen!«
    Lloyd wurde schwarz vor Augen. Er spürte nicht mehr, wie er bewusstlos in den Staub stürzte.

    In London war es kalt und feucht. Lloyd ging im Regen die Nutley Street hinunter zum Haus seiner Eltern. Er trug noch immer seine spanische Armeejacke mit den Reißverschlüssen und die Cordhose, dazu Stiefel ohne Socken. In einem kleinen Rucksack steckten seine Unterwäsche zum Wechseln, ein Hemd und eineBlechtasse. Um seinen Hals lag der rote Schal, aus dem Dave eine behelfsmäßige Schlinge für seinen Arm gebunden hatte. Der Arm tat immer noch weh, aber die Schlinge war überflüssig geworden.
    Es war ein Spätnachmittag im Oktober.
    Wie erwartet hatte man Lloyd in einen Nachschubzug gesetzt, der mit gefangenen Rebellen nach Barcelona zurückfuhr, eine Strecke von knapp zweihundert Meilen; dennoch hatte die Fahrt drei Tage gedauert, denn der Zug war mit den Gefangenen hoffnungslos überbelegt. In Barcelona war Lloyd von Lenny getrennt worden und hatte ihn nicht mehr wiedergesehen. Er hatte sich in Richtung Norden aufgemacht – mithilfe eines freundlichen Lastwagenfahrers, zu Fuß und auf Güterzügen. Meist waren die Waggons mit Kohle oder Kies beladen, bei einer glücklichen Gelegenheit aber auch mit Kisten voller Wein.
    Bei Nacht hatte Lloyd sich über die Grenze nach Frankreich geschlichen. Er hatte unter freiem Himmel geschlafen, um Nahrung gebettelt und für ein Trinkgeld Gelegenheitsarbeiten erledigt. Zwei wundervolle Wochen lang half er auf einem Weingut in Bordeaux bei der Traubenlese und verdiente sich das Geld für die Überfahrt über den Kanal.
    Jetzt war er zu Hause.
    Tief atmete Lloyd die feuchte Luft von Aldgate ein. Sie roch nach Ruß und Kohle, aber für ihn duftete sie wie Parfüm. Am Gartentor blieb er stehen und blickte hinauf zu dem Reihenhaus, in dem er vor gut zweiundzwanzig Jahren zur Welt gekommen war. Hinter den regenstreifigen Fenstern brannte Licht: Jemand war zu Hause. Lloyd ging zur Vordertür. Seinen Schlüssel besaß er noch; er hatte ihn zusammen mit seinem Pass aufbewahrt. Er schloss auf und betrat das Haus.
    Im Flur ließ er den Rucksack neben dem

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