Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Tschechoslowakei dem Großdeutschen Reich eingegliedert worden, das nun die beherrschende Macht in Europa war. Mussolinis Italien war durch den sogenannten Stahlpakt mit Deutschland verbündet. Ende März war Madrid endlich an Francos Nationalisten gefallen, sodass auch Spanien nun eine faschistische Regierung hatte. Wie konnte ein Deutscher da den Wunsch haben, dies alles zu zerstören und sein Vaterland unter die Knute der Bolschewiken zu zwingen?
In Mackes Augen waren solche Leute Dreck, Ungeziefer, das gnadenlos gejagt und vernichtet werden musste. Als er an diesen Abschaum dachte, verzerrte sich sein Gesicht vor Wut, und er stampfte mit dem Fuß auf, als wollte er einen der verhassten Kommunisten zertreten.
Dann sah er Wolodja Peschkow.
Peschkow war ein junger Mann im blauen Sergeanzug. Er hatte sich einen leichten Mantel über den Arm gelegt, als rechnete er damit, dass das Wetter umschlug. Sein kurz geschnittenes Haar und sein strammer Schritt verrieten den Soldaten, auch wenn er Zivilkleidung trug. Außerdem suchte er mit täuschend beiläufigen, aber aufmerksamen Blicken die Straße ab, was die Vermutung nahelegte, dass er entweder zur GRU gehörte, dem militärischen Nachrichtendienst, oder zum NKWD , der Geheimpolizei.
Mackes Puls ging schneller. Natürlich kannten er und seine Leute jeden Botschaftsangehörigen dem Aussehen nach. Die Passfotos befanden sich in den jeweiligen Akten, und die Leute wurden ständig beschattet. Doch über Peschkow wusste Macke nicht viel. Der Mann war jung – fünfundzwanzig, der Akte zufolge –, deshalb war er vielleicht nur ein unbedeutender Handlanger. Oder er verstand sich gut darauf, unscheinbar zu wirken.
Peschkow überquerte die Straße und ging zur Ecke Friedrichstraße, wo Macke saß. Als der Russe näher kam, bemerkte Macke, dass er ziemlich groß und kräftig war. Und er wirkte wachsam.
Macke schaute rasch weg. Mit einem Mal war er nervös. Er griff nach seiner Tasse, nippte am kalten Rest seines Kaffees undverbarg dabei sein Gesicht, so gut es ging. Er wollte nicht in die blauen Augen Peschkows blicken.
Peschkow bog in die Friedrichstraße ein. Macke nickte Reinhold Wagner zu, der an der gegenüberliegenden Ecke stand. Sofort folgte Wagner dem Russen. Dann stand auch Macke auf und schloss sich den beiden an.
Natürlich war nicht jeder, der für die GRU arbeitete, ein Spion. Den größten Teil ihrer Informationen erhielten die Agenten auf legalem Weg, ganz unspektakulär, indem sie deutsche Zeitungen lasen. Natürlich glaubten sie nicht alles, was darin stand, aber sie achteten auf Hinweise, zum Beispiel wenn eine Geschützfabrik eine Anzeige aufgab, in der sie zehn erfahrene Dreher suchte. So etwas ließ wichtige Rückschlüsse zu. Außerdem konnten die Russen durch Deutschland reisen, wie es ihnen gefiel, und die Augen offen halten – im Gegensatz zu den Diplomaten in der Sowjetunion, die Moskau nicht ohne Begleitung verlassen durften.
Der junge Mann, den Macke und Wagner nun verfolgten, war möglicherweise ganz harmlos. Vielleicht war er nur ein kleiner Analyst, der nichts weiter tat als Zeitung lesen. Für solch eine Arbeit genügte es, wenn man fließend Deutsch sprach und eine Inhaltsangabe schreiben konnte.
Sie folgten Peschkow am Restaurant von Mackes Bruder vorbei. Es hieß noch immer Bistro Robert, aber die Kundschaft war eine ganz andere. Die wohlhabenden Homosexuellen und die jüdischen Geschäftsleute mit ihren deutschen Geliebten waren ebenso verschwunden wie die überbezahlten Schauspielerinnen, die stets nach rosa Champagner verlangt hatten. Einige von ihnen hatten Deutschland verlassen. Macke weinte ihnen keine Träne nach, auch wenn ihr Verschwinden bedeutete, dass das Bistro Robert nicht mehr so viel Umsatz machte wie früher.
Kurz fragte sich Macke, was wohl aus dem ehemaligen Besitzer geworden war, Robert von Ulrich. Verschwommen erinnerte Macke sich daran, dass von Ulrich nach England geflohen war. Vielleicht, dachte er zynisch, hat der Kerl dort ein neues Restaurant für Perverse eröffnet.
Peschkow verschwand in einer Kneipe.
Wagner folgte ihm eine Minute später, während Macke draußen blieb. Die Kneipe war beliebt und entsprechend gut besucht.Während Macke darauf wartete, dass Peschkow wieder herauskam, sah er einen Soldaten und ein Mädchen hineingehen; dann kamen zwei gut gekleidete Frauen und ein alter Mann in schmutzigem Mantel heraus. Schließlich tauchte Wagner wieder auf. Er war allein. Er schaute zu Macke und
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