Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
ein Mercedes 540 K Autobahnkurier mit elegant geschwungenen Kotflügeln, lang gezogener Motorhaube und schrägem Heck – ein so exklusives Auto, dass es alle Blicke auf sich zog. Der Wagen war so teuer, dass bis dato nur eine Handvoll davon verkauft worden waren.
Wolodja starrte Werner fassungslos an. »Solltest du nicht ein weniger auffälliges Auto fahren?«
»Das ist ein doppelter Bluff«, erwiderte Werner. »Die Leute sollen es für eine Täuschung halten, dabei ist es gar keine. Niemand käme auf die Idee, dass ein echter Spion einen so protzigen Wagen fährt.«
Wolodja lag die Frage auf der Zunge, wie Werner sich so ein Auto überhaupt leisten konnte, als ihm einfiel, dass Werners Vater ein wohlhabender Fabrikant war.
»Ich werde auf keinen Fall einsteigen«, erklärte Wolodja. »Ich nehme die Bahn.«
»Wie du willst.«
»Ich sehe dich dann im Adlon. Aber zeig nicht, dass du mich kennst.«
»Natürlich nicht.«
Eine halbe Stunde später sah Wolodjas Werners Wagen. Er war sorglos vor dem Hotel geparkt. Diese Lässigkeit kam Wolodja dumm und riskant vor, aber vielleicht gehörte es ja zu Werners Vorstellung von Mut. Vielleicht musste er den Sorglosen spielen, um die Risiken seiner Spionagetätigkeit ertragen zu können. Würde er die Gefahr akzeptieren, könnte er womöglich nicht weitermachen.
Die Bar des Adlon war voller modisch gekleideter Frauen und eleganter Herren, viele von ihnen in maßgeschneiderten Uniformen. Wolodja sah Werner sofort. Er saß mit einem anderen Mann am Tisch, vermutlich Heinrich von Kessel. Wolodja ging nahe an ihnen vorbei, sodass er hörte, wie Heinrich sagte: »Buck Clayton ist ein viel besserer Trompeter als Hot Lips Page.«
Wolodja setzte sich an die Bar, bestellte sich ein Bier und musterte unauffällig den potenziellen Spion. Heinrich von Kessel hatte eine blasse Haut und dichtes, dunkles Haar, das er für einen Soldaten ungewöhnlich lang trug. Obwohl er sich mit Werner über ein belangloses Thema wie Jazz unterhielt, wirkte er angespannt. Er gestikulierte und fuhr sich immer wieder mit den Fingern durchs Haar. In der Tasche seiner Uniform steckte ein Buch. Wolodja hätte darauf wetten können, dass es sich um einen Gedichtband handelte.
Gemächlich trank er zwei Bier und tat so, als würde er die Morgenpost von vorne bis hinten durchlesen. Dabei versuchte er, sich nicht zu sehr auf Heinrich zu konzentrieren. Der Mann war vielversprechend, aber es stand keineswegs fest, dass er zur Mitarbeit bereit war.
Die Rekrutierung von Informanten war das Schwierigste an Wolodjas Arbeit. Man konnte kaum Vorsichtsmaßnahmen treffen, da man das Ziel noch nicht auf seiner Seite hatte, und man konnte unmöglich wissen, wie das Ziel reagieren würde: Die betreffende Person konnte wütend werden und lautstark ihre Weigerung kundtun, oder sie konnte Angst bekommen und die Flucht ergreifen. Der Anwerber konnte die Situation unmöglich kontrollieren. Und irgendwann musste er ganz offen fragen: »Wollen Sie als Spion arbeiten?«
Wolodja überlegte sich, wie er an Heinrich herantreten sollte. Vermutlich war der Glaube der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit. Wolodja erinnerte sich, was sein Vorgesetzter, Major Lemitow,einmal gesagt hatte: »Ehemalige Katholiken geben gute Agenten ab. Sie lehnen die absolute Autorität der Kirche ab, tauschen sie aber nur gegen die absolute Autorität der Partei.« Heinrich mochte Vergebung für seine Sünden suchen, aber würde er deshalb sein Leben riskieren?
Schließlich bezahlte Werner die Rechnung, und die beiden Männer verließen das Hotel. Wolodja folgte ihnen. Auf der Straße trennten sie sich. Werner stieg in seinen Wagen und jagte mit kreischenden Reifen davon, während Heinrich zu Fuß durch den Park ging. Wolodja folgte ihm.
Inzwischen war es dunkel geworden, aber der Himmel war klar, und man konnte gut sehen. An diesem warmen Abend waren viele Leute unterwegs, zumeist Pärchen. Wolodja schaute immer wieder über die Schulter, um sicherzugehen, dass niemand Heinrich aus dem Adlon gefolgt war. Schließlich nahm er einen tiefen Atemzug und schloss zu Heinrich auf, passte sich dessen Tempo an und sagte: »Wer gesündigt hat, kann Buße tun.«
Heinrich musterte ihn erschrocken. Offensichtlich hielt er Wolodja für verrückt. »Was wollen Sie von mir?«
»Sie können sich gegen das Regime des Bösen wehren, das Sie mit erschaffen haben.«
Ein Ausdruck der Angst erschien auf Heinrichs Gesicht. »Wer sind Sie? Was wissen Sie über
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