Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Zufriedenheit die perfekte Studentin: konservativ, langweilig, beinahe geschlechtslos.
Carla war eher aufgestanden als der Rest der Familie; deshalb half sie Ada, der Zofe, in der Küche den Frühstückstisch zu decken, nachdem sie sich angezogen hatte.
Carlas Bruder kam als Nächster. Erik war mittlerweile neunzehn und trug einen schwarzen Schnurrbart. Zum Missfallen der Familie hatte er sich zu einem glühenden Bewunderer der Nazis entwickelt. Erik studierte an der Charité, der medizinischen Fakultät der Universität von Berlin, zusammen mit seinem besten Freund und Nazi-Kameraden Hermann Braun. Eriks Studium wurde über ein Stipendium finanziert; die von Ulrichs hätten sich die Studiengebühren niemals leisten können.
Auch Carla hatte sich um ein Stipendium beworben, um an derselben Fakultät studieren zu können wie Erik. Heute war ihr Bewerbungsgespräch. Sollte sie Erfolg haben, stand ihr der Weg offen, Ärztin zu werden. Falls nicht …
Carla hatte keine Ahnung, wie es dann für sie weitergehen sollte.
Die Machtergreifung der Nazis hatte das Leben ihrer Eltern ruiniert. Ihr Vater hatte sein Mandat als Reichstagsabgeordneter verloren, als die SPD verboten worden war. Eine andere Arbeit, bei der er seine politische und diplomatische Expertise hätte einbringen können, gab es nicht. So kratzte er mühsam den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zusammen, indem er deutsche Zeitungsartikel für die britische Botschaft übersetzte, wo er noch immer ein paar Freunde hatte. Auch Maud, einst eine bekannte Journalistin der Linken, war ins berufliche Abseits gedrängt worden. Keine Zeitung durfte mehr ihre Artikel veröffentlichen.
Carla fühlte sich ihrer Familie eng verbunden. Umso verzweifelter hatte sie den Abstieg ihres Vaters mitverfolgt. In ihrer Kindheit hatte Walter hohes Ansehen und politischen Einflussbesessen; nun war er ein geschlagener Mann. Außerdem schmerzte es Carla jedes Mal, das tapfere Gesicht ihrer Mutter zu sehen, das sie allen Schicksalsschlägen zum Trotz zur Schau trug. Vor dem Krieg war sie eine bekannte Wortführerin der Suffragetten in England gewesen und hatte viel für die Rechte der Frauen getan; jetzt verdiente sie ein paar Mark mit Klavierstunden.
Doch die von Ulrichs betonten immer wieder, das alles gern auf sich zu nehmen, solange ihre Kinder ein glückliches und erfülltes Leben führen könnten.
Carla, die ihre Eltern vergötterte, hatte sich schon als kleines Mädchen zum Ziel gesetzt, ihnen nachzueifern und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Anfangs hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihrem Vater in die Politik oder ihrer Mutter in den Journalismus zu folgen, doch beides kam längst nicht mehr infrage. Was aber sollte sie tun in einem Land, dessen Regierung Gewalt und Brutalität als politische Werkzeuge benutzte und in dem es keine freie Presse mehr gab?
Schließlich hatte Erik sie auf die Idee gebracht. Auch Ärzte kämpften gegen Schmerz und Leid und versuchten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, unabhängig von den politischen Verhältnissen.
Also setzte Carla sich zum Ziel, Medizin zu studieren. Sie büffelte härter als jedes andere Mädchen in ihrer Klasse, und sie bestand jede Prüfung mit Bravour, besonders in den Naturwissenschaften. Ihren schulischen Leistungen nach war Carla viel eher für ein Stipendium qualifiziert als ihr Bruder.
Am Frühstückstisch sagte Erik mürrisch: »In meinem Jahrgang gibt es keine einzige Frau.« Offenbar gefiel es ihm nicht, dass Carla tatsächlich in seine Fußstapfen treten wollte. Oder er hatte Angst, sie könnte ihn in den Schatten stellen.
»Alle meine Noten sind besser als deine«, sagte Carla. »In Chemie, Biologie, Mathematik …«
»Jajaja.«
»Und das Stipendium wird auch an Studentinnen vergeben, so steht es jedenfalls in den Statuten.«
Ehe Erik etwas erwidern konnte, kam ihre Mutter in die Küche. Sie trug einen grauen Bademantel und hatte sich den Gürtel doppelt um die Hüfte geschlungen. »Und wenn es so in den Statutensteht, sollte die Kommission das auch befolgen«, nahm sie Carlas Bemerkung auf. »Schließlich sind wir hier in Deutschland.« Maud betonte immer wieder, ihre Wahlheimat zu lieben, und vielleicht war es wirklich so; doch seit der Machtergreifung war sie zunehmend ironischer geworden.
Carla tunkte ihr Brot in den Milchkaffee. »Wie würdest du dich fühlen, wenn es zum Krieg zwischen England und Deutschland käme, Mutter? Als Deutsche oder als Britin?«
»Ich wäre
Weitere Kostenlose Bücher