Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
den Augenblick verfliegen lassen. Nach einem letzten Blick durchs Zimmer ging sie zur Tür, öffnete sie vorsichtig und spähte hinaus. Auf dem Flur war niemand.
Daisy huschte davon.
Als Nächstes musste sie Lloyd instruieren. Normalerweise sah sie ihn tagsüber nicht, es sei denn, sie begegnete ihm zufällig in der Halle oder in der Bibliothek. Wie konnte sie dafür sorgen, dass sie ihn traf?
Am besten, sie hinterließ ihm auf seinem Zimmer eine Nachricht.
Daisy stieg die Hintertreppe ins Obergeschoss hinauf. DieSchulungsteilnehmer waren nicht in ihren Zimmern, aber es bestand immer die Möglichkeit, dass einer von ihnen auftauchte. Deshalb musste sie schnell handeln.
Sie eilte in Lloyds Zimmer. Dort roch es nach ihm. Daisy konnte nicht genau sagen, was für ein Geruch es war. Ein Eau de Cologne sah sie jedenfalls nicht; aber neben seinem Rasiermesser stand ein Topf mit einer Art Haarlotion. Sie roch daran. Ja, das war es: Zitrus und irgendetwas Würziges.
Sie schaute sich um. Auf der Kommode lag ein billiger Schreibblock. Daisy riss ein Blatt heraus und machte sich auf die Suche nach einem Schreibgerät. In der obersten Schublade fand sie einen Bleistift.
Was konnte sie ihm schreiben? Sie musste vorsichtig sein, falls jemand anders die Nachricht las. Schließlich schrieb sie nur: Bibliothek. Sie ließ das Blatt offen auf der Kommode liegen, sodass Lloyd es kaum übersehen konnte. Dann verschwand sie, ohne dass jemand sie sah.
Lloyd kam im Lauf des Tages auf jeden Fall in sein Zimmer, und sei es nur, um seinen Füllhalter aus der Tintenflasche auf der Kommode nachzufüllen. Dann würde er die Nachricht lesen und zu ihr kommen.
Daisy ging in die Bibliothek, um dort auf ihn zu warten.
Der Morgen zog sich in die Länge. Daisy las gern viktorianische Autorinnen – sie schienen zu verstehen, wie sie sich derzeit fühlte –, aber heute vermochten Mrs. Gaskell und die anderen ihre Aufmerksamkeit nicht zu fesseln, und so verbrachte Daisy die meiste Zeit damit, aus dem Fenster zu schauen. Es war Mai; normalerweise hätten die Frühlingsblumen geblüht und das Anwesen in eine leuchtende Farbenpracht getaucht, aber die meisten Gärtner waren beim Militär; die wenigen, die noch da waren, zogen Gemüse, anstatt Blumen zu pflanzen.
Kurz vor elf kamen mehrere Schulungsteilnehmer in die Bibliothek und setzten sich mit ihren Notizbüchern in die grünen Ledersessel. Lloyd war nicht unter ihnen. Daisy wusste, dass der letzte Vortrag um halb zwölf endete, aber auch diesmal tauchte Lloyd nicht auf. Furcht stieg in ihr auf. Doch als der Gong zum Mittagessen ertönte, kam er endlich. Daisy atmete vor Erleichterung auf.
Lloyd blickte sie fragend an. »Ich habe gerade Ihre Nachricht gelesen«, sagte er. »Fehlt Ihnen etwas?«
Es war typisch für ihn, dass seine erste Sorge ihr galt. Wenn sie ein Problem hatte, war es ihm keine Last, sondern eine Gelegenheit, ihr zu helfen. Kein Mann hatte sie so auf Händen getragen wie Lloyd, nicht einmal ihr Vater.
»Nein, alles in Ordnung«, erwiderte sie. »Wissen Sie, wie eine Gardenie aussieht?« Sie hatte sich den ganzen Vormittag zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte.
Lloyd runzelte die Stirn. »Ja. Wieso?«
»Im Westflügel gibt es eine Zimmerflucht, die Gardeniensuite genannt wird. Auf die Tür ist eine weiße Gardenie gemalt. Glauben Sie, Sie können sie finden?«
»Natürlich.«
»Kommen Sie heute Abend dorthin, statt in meine Wohnung. Zur gewohnten Zeit.«
Er blickte sie an und versuchte zu ergründen, was vor sich ging. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Aber wieso?«
»Ich möchte Ihnen etwas mitteilen.«
»Und was?«
»Wir sehen uns heute Abend«, sagte sie ausweichend.
»Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte Lloyd und verließ den Raum.
Daisy kehrte in ihre Unterkunft zurück. Maisie, die keine große Köchin war, hatte ihr aus zwei Scheiben Brot und Dosenschinken ein Sandwich gemacht, doch in Daisys Magen flatterten Schmetterlinge, und sie rührte es nicht an. Nicht einmal Pfirsicheiskrem hätte sie herunterbekommen.
Sie legte sich hin. Ihre Gedanken an die bevorstehende Nacht waren so lebendig und bildhaft, dass es ihr peinlich war. Von Boy, der Erfahrung mit Frauen besaß, hatte Daisy viel über Sex gelernt; deshalb wusste sie einiges darüber, was Männern gefiel. Mit Lloyd wollte sie alles tun. Sie wollte jeden Zoll seines Körpers küssen; sie wollte mit ihm machen, was Boy soixante-neuf nannte; sie wollte seinen Samen schlucken. Die Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher