Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
den es nie gegeben hatte?
Lloyd hakte nach. »Und die Familie von Teddy Williams? Mam sagt, er kam aus Swansea. Vermutlich hatte er Eltern, Brüder, Schwestern …«
»Deine Mutter hat nie ein Wort über seine Familie verloren«, sagte Grandmam. »Ich glaube, sie hat sich geschämt. Aus welchem Grund auch immer, sie wollte die Leute nicht kennen. Und wir hatten kein Recht, ihr reinzureden.«
»Aber vielleicht habe ich Großeltern in Swansea. Und Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, die ich nie kennengelernt habe!«
»Das ist wohl wahr«, sagte Grandah. »Aber davon wissen wir nichts.«
»Aber Mam weiß es.«
»So wird’s wohl sein.«
»Dann frage ich sie«, sagte Lloyd.
Daisy war verliebt.
Sie wusste – wenn auch erst seit Kurzem –, dass sie vor Lloyd keinen anderen Mann wirklich geliebt hatte. Boy hatte sie nur aufregend gefunden, und was den armen Charlie Farquharson anging, hatte sie ihn bestenfalls sehr gerngehabt. Sie hatte geglaubt, ihre Liebe jedem geben zu können, den sie mochte, und dass ihre größte Verantwortung darin bestehe, die klügste Wahl zu treffen. Heute wusste sie, dass sie auf der falschen Fährte gewesen war: Klugheit hatte nichts mit Liebe zu tun, und wählen konnte man nicht. Die Liebe glich einem Erdbeben.
Daisys Leben war leer bis auf die zwei Stunden, die sie jeden Abend mit Lloyd verbrachte. Der Rest des Tages war Vorfreude; die Nacht gehörte der Erinnerung.
Lloyd war das Kissen, auf das sie ihre Wange legte. Er war das Handtuch, mit dem sie ihre Brüste abtupfte, wenn sie aus der Badewanne stieg. Er war der Fingerknöchel, den sie in den Mund nahm und an dem sie nachdenklich saugte.
Wie hatte sie Lloyd vier Jahre lang übersehen können? Beim Trinity Ball hatte er vor ihr gestanden, die Liebe ihres Lebens – und sie? Ihr war nur aufgefallen, dass er einen fremden Abendanzug trug! Wieso hatte sie ihn nicht in die Arme geschlossen, ihn geküsst und darauf bestanden, dass sie unverzüglich heirateten?
Lloyd hatte es die ganze Zeit gewusst, vermutete Daisy. Er musste sich auf der Stelle in sie verliebt haben. Warum sonst hätte er sie damals anflehen sollen, sich von Boy zu trennen? »Gib ihn auf«, hatte er an dem Abend gesagt, als sie ins Varieté gefahren waren. »Sei meine Freundin.« Und sie? Sie hatte ihn ausgelacht. Dabei hatte er die Wahrheit erkannt, für die sie, Daisy, blind gewesen war.
Immerhin hatte eine Eingebung sie dazu bewogen, Lloyd auf dem Gehsteig in Mayfair zu küssen, in der Dunkelheit zwischen zwei Straßenlaternen.
Heute, auf Tŷ Gwyn, verweigerte sich Daisy jedem Gedanken daran, wie es weitergehen sollte. Sie lebte von einem Tag auf den anderen, ging wie auf Wolken und lächelte ohne jeden Grund. Aus Buffalo kam ein Brief von ihrer Mutter, die sich um ihre Gesundheit und ihren Gemütszustand nach der Fehlgeburt sorgte. Daisy schickte ihr eine beruhigende Antwort. In dem Brief stand außerdem die eine oder andere Neuigkeit: Dave Rouzrokhwar in Palm Beach gestorben; Muffie Dixon und Philip Renshaw hatten geheiratet; Rosa Dewar, die Frau des Senators, hatte einen Bestseller mit dem Titel Hinter den Kulissen des Weißen Hauses geschrieben, und ihr Sohn Woody hatte die Fotos beigesteuert. Noch vor einem Monat hätte der Brief Daisy mit Heimweh erfüllt; heute interessierte sie nur am Rande, was sie las.
Traurig war sie nur, wenn sie an das Kind dachte, das sie verloren hatte. Die Schmerzen waren längst verschwunden, die Blutungen hatten nach einer Woche aufgehört, aber die Trauer um den Verlust war geblieben. Sie weinte nicht mehr darüber, doch manchmal starrte sie ins Leere und fragte sich, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre und wie das Kind wohl ausgesehen hätte. Hinterher stellte sie zu ihrem Erschrecken jedes Mal fast, dass sie sich eine Stunde lang nicht von der Stelle gerührt hatte.
Der Frühling war gekommen, und Daisy spazierte in wasserfesten Stiefeln und Regenmantel die windige Hügelflanke entlang. Manchmal, wenn sie sicher war, dass niemand außer den Schafen sie hören konnte, rief sie aus vollem Hals: »Ich liebe ihn!«
Was ihr ein wenig Sorgen bereitete, war Lloyds Reaktion auf ihre Fragen nach seinen Eltern. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, das Thema anzusprechen; es hatte ihn sichtlich betroffen gemacht. Dennoch hatte sie einen stichhaltigen Grund gehabt, die Sache aufs Tapet zu bringen: Früher oder später kam die Wahrheit ja doch ans Licht, und da war es besser, solche Dinge von jemandem zu hören,
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