Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
durchgeschüttelt, wenn der Lkw über Geröll und durch Schlaglöcher rumpelte. Erik sehnte sich schon deshalb nach einem Kampfeinsatz, um endlich von diesem verdammten Laster herunterzukommen.
Hermanns sommersprossiges Gesicht war vor Sorge verzogen, als er Erik zuflüsterte: »Das ist doch bescheuert.«
»Vorsicht, so was solltest du lieber nicht sagen«, raunte Erik ebenso leise zurück. »Du warst doch in der Hitler-Jugend. Vertraust du dem Führer etwa nicht?« Hermanns Defätismus ärgerte Erik, aber seine Wut war nicht so groß, dass er seinen Freund denunziert hätte.
Hermann fragte laut: »Was machen wir hier eigentlich? Hier tut sich doch gar nichts.«
Ihr Vorgesetzter, Oberstabsarzt Dr. Rainer Weiss, saß vorne neben dem Fahrer. »Wir befolgen die Befehle des Führers, und der Führer irrt nicht.« Er sagte es mit ernster Miene, doch Erik war sicher, dass es spöttisch gemeint war. Weiss, ein hagerer Mann mit schwarzem Haar und Brille, machte des Öfteren zynischeBemerkungen über die Regierung und das Militär, aber auf eine so geschickte Art und Weise, dass man ihm keinen Strick daraus drehen konnte. Die Wehrmacht hätte es sich ohnehin nicht leisten können, fähige Ärzte zu verlieren.
Neben den Ärzten saßen zwei Sanitäter im Lkw, beide älter als Erik und Hermann. Der eine, Christoph, hatte eine bessere Antwort auf Hermanns Frage: »Vielleicht rechnen die Franzosen ja gar nicht damit, dass wir hier angreifen. Schließlich ist es ein schwieriges Gelände.«
Sein Freund Manfred fügte hinzu: »Ja, genau. So haben wir die Überraschung auf unserer Seite und werden auf wenig Widerstand stoßen.«
Weiss bemerkte sarkastisch: »Danke für diese Lektion in Taktik, meine Herrn. Das war wirklich sehr erhellend.« Wenigstens widersprach er ihnen nicht.
Trotz der militärischen Erfolge der Wehrmacht in letzter Zeit gab es zu Eriks Erstaunen immer noch Leute, die am Führer zweifelten. Auch Eriks Familie verschloss die Augen vor den Triumphen der Nationalsozialisten. Eriks Vater, einst ein Mann von Macht und Ansehen, war nur noch eine erbärmliche Gestalt. Anstatt sich über die Eroberung des barbarischen Polen zu freuen, jammerte er über die schlechte Behandlung der polnischen Bevölkerung – wovon er nur gehört haben konnte, wenn er verbotenerweise ausländische Radiosender hörte. Ein solches Verhalten konnte sie alle in arge Schwierigkeiten bringen, auch Erik. Schließlich hatte er sich mitschuldig gemacht, indem er die Bemerkung seines Vaters nicht dem Blockwart gemeldet hatte.
Auch seine Mutter verhielt sich nicht so, wie Erik es gern gesehen hätte. Hin und wieder verschwand sie mit einem Päckchen Räucherfisch oder Eier. Sie sagte nie, was sie damit anfing, doch Erik war ziemlich sicher, dass sie die Lebensmittel zu Frau Rothmann brachte, deren jüdischer Mann nicht mehr als Arzt praktizieren durfte.
Trotzdem schickte Erik einen großen Teil seines Soldes nach Hause, weil seine Eltern sonst hungern müssten. Schließlich hasste er nicht sie, sondern ihre politischen Ansichten. Aber das galt sicherlich auch umgekehrt: Seine Eltern hassten die Nazis, aber sie liebten ihren Sohn.
Eriks Schwester Carla hatte nach ihrem gescheiterten Versuch, ein Medizinstudium aufzunehmen, eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen – nach Eriks Ansicht ein viel angemessenerer Beruf für ein deutsches Mädchen. Auch Carla unterstützte ihre Eltern von ihrem mageren Gehalt.
Erik und sein Freund Hermann hatten eigentlich zur Infanterie gewollt. Ihre Vorstellung von Kampf war, sich mit dem Gewehr in der Hand auf den Feind zu stürzen und für das Vaterland zu töten oder zu sterben. Doch in Kampfhandlungen würden sie vorerst wohl nicht verwickelt werden. Beide hatten bereits zwei Semester Medizin studiert, und solche Kenntnisse mussten genutzt werden. Deshalb hatte man sie zum Sanitätsdienst eingezogen.
Der vierte Tag in Belgien, der 13. Mai, verlief bis zum Nachmittag genauso wie die drei anderen Tage zuvor. Dann aber hörten sie über das Brummen der Motoren und das Rasseln und Klirren der Panzerketten hinweg ein unbekanntes, lauteres Geräusch: Nicht weit entfernt donnerten Flugzeuge über die Wälder und warfen Bomben ab. Eriks Nasenflügel bebten, als er den stechenden Rauch und den Sprengstoff roch.
Gut eine Stunde später legten sie auf einem Hügel eine Rast ein. Von hier oben konnte man in ein gewundenes Flusstal blicken. Oberstabsarzt Weiss sagte, der Fluss sei die Maas und sie befänden
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