Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
sie kein sprudelndes Blut, und so kümmerten sie sich erst einmal nicht um die Wunden. Sie wuchteten die Trage hoch und liefen mit dem Verwundeten zurück in Richtung Verbandplatz.
Der Mann schrie vor Schmerz, kaum dass sie losgerannt waren, doch als sie stehen blieben, brüllte er »Weiter! Weiter!« und biss die Zähne zusammen.
Einen Mann auf einer Trage zu transportieren war nicht so leicht, wie es aussah. Schon auf halber Strecke hatte Erik das Gefühl, ihm würden die Arme abfallen; aber er sah, dass es dem Verwundeten noch viel schlechter ging als ihm, und so verbiss er sich den Schmerz und lief weiter.
Zum Glück schlugen in ihrer Nähe keine Granaten mehr ein. Die Franzosen konzentrierten ihr gesamtes Feuer auf das Ufer, um zu verhindern, dass die Deutschen den Fluss überquerten.
Schließlich erreichten Erik und Hermann mit ihrer Last den Bauernhof. Wie versprochen hatte Weiss inzwischen alles organisiert und eingerichtet. Überflüssige Möbel waren aus den Zimmern entfernt worden; auf dem Boden hatte man den Platz für die Verwundeten markiert, und die Küche diente als OP . Weiss zeigte Erik und Hermann, wo sie die Trage absetzen sollten. Dann schickte er sie wieder los, um den nächsten Verwundeten zu holen.
Diesmal war der Weg zurück zum Fluss leichter. Sie trugen keine Last, und es ging ein wenig bergab. Als sie sich dem Ufer näherten, fragte Erik sich ängstlich, ob er wieder in Panik geraten würde.
Bestürzt sah er, wie erbittert der Kampf geführt wurde. Mitten im Fluss trieben zerfetzte Schlauchboote, und am Ufer lagen mehr Leichen als zuvor; dennoch hatte die Infanterie es noch nicht auf die andere Seite geschafft.
»So eine Scheiße!« Hermanns Stimme klang schrill. »Wir hätten auf unsere Artillerie warten sollen!«
Erik erwiderte: »Nein, dann hätten wir den Vorteil der Überraschung verloren. Die Franzosen hätten Zeit gehabt, Verstärkung heranzuführen, und der ganze beschwerliche Marsch durch die Ardennen wäre umsonst gewesen.«
»Aber es klappt doch sowieso nicht, verdammt!«, stieß Hermann hervor.
Tief im Innern fragte Erik sich zum ersten Mal, ob der Plan des Führers wirklich unfehlbar war – ein Gedanke, der ihm die Entschlossenheit raubte und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Zum Glück blieb Erik keine Zeit zum Grübeln. Er und Hermann blieben neben einem Mann stehen, dem eine Granate das Bein abgerissen hatte. Er war ungefähr so alt wie sie beide, hatte blasse, sommersprossige Haut und kurzes rotes Haar. Sein rechtes Bein endete in einem Stumpf am Oberschenkel. Erstaunlicherweise war er noch bei Bewusstsein. Er starrte die beiden Sanitäter an, als wären sie Engel der Barmherzigkeit.
Erik fand den Druckpunkt im Schritt des Mannes und stoppte die Blutung, während Hermann einen Stauschlauch aus dem Koffer holte und ihn dem Verwundeten anlegte. Dann hoben sie den Mann auf die Trage und machten sich auf den Rückweg.
Während sie sich vorankämpften, dachte Erik über Hermanns pessimistische Bemerkung nach. Hermann war ein guter Soldat und ein guter Deutscher, ließ sich manchmal aber von Zweifelnund Schwarzseherei unterkriegen. Wenn er, Erik, Zweifel hegte, behielt er sie für sich – allein schon, um die Moral der Kameraden nicht zu schwächen. Außerdem konnte es einem Ärger einbringen, an der Überlegenheit der deutschen Wehrmacht oder gar am Führer zu zweifeln.
Dennoch musste Erik sich eingestehen, dass der Marsch durch die Ardennen nicht den erhofften schnellen Sieg zu bringen schien. Die Maas war zwar nur leicht verteidigt, doch die Franzosen wehrten sich mit Zähnen und Klauen.
Entschlossen schüttelte Erik diese Gedanken ab. Er durfte nicht zulassen, dass seine erste Kampferfahrung seinen Glauben an den Führer erschütterte. Allein der Gedanke ließ wieder Panik in ihm aufflackern.
Erik fragte sich, ob die deutschen Streitkräfte weiter östlich besser vorankamen. Als sie sich der Grenze genähert hatten, waren die 1. und die 10. Panzerdivision rechts und links der 2. vorgerückt, der Erik angehörte. Griffen sie jetzt weiter flussaufwärts an?
Eriks Arme brannten wie Feuer, als er und Hermann endlich den Verbandplatz erreichten. Mittlerweile wimmelte es hier von Verwundeten. Überall lagen stöhnende und schreiende Männer, und der Boden war von blutigen Verbänden übersät. Weiss und seine Assistenzärzte gingen von einem verstümmelten Körper zum nächsten. Erik schauderte. In seinen schlimmsten Albträumen hätte er sich nicht vorstellen
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