Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
hatten keinerlei Schutz vor der brennenden Junisonne; zugleich waren sie dankbar für die warmen Nächte, denn sie hatten keine Decken. Und es gab weder Toiletten noch Wasser, um sich zu waschen.
Lloyd grub mit den Händen ein Loch. Er hatte ein paar walisische Bergarbeiter um sich geschart, um am Spielfeldrand eine Latrine auszuheben. Jetzt arbeitete er mit ihnen zusammen, um als Offizier mit gutem Beispiel voranzugehen. Bald gesellten sich weitere Männer zu ihnen, die ohnehin nichts zu tun hatten, undso dauerte es nicht lange, bis Hunderte von Gefangenen die Erde aufwühlten. Als ein deutscher Wachsoldat vorbeikam und sich erkundigte, was los sei, erklärte Lloyd es ihm.
»Du sprichst gut Deutsch«, sagte der Wachsoldat freundlich. »Wie heißt du?«
»Lloyd.«
»Ich bin Dieter.«
Lloyd beschloss, Dieters Anwandlung von Freundschaft auszunutzen. »Wir könnten schneller graben, wenn wir Werkzeuge hätten.«
»Warum habt ihr’s denn so eilig?«
»Bessere Hygiene kommt sowohl uns als auch euch zugute.«
Dieter zuckte mit den Schultern und ging davon.
Lloyd kam sich seltsam unheroisch und nutzlos vor. Er war nicht im Kampf gewesen. Man hatte die Welsh Rifles als Reserve nach Frankreich geschickt, um andere Einheiten zu ersetzen, die längere Kämpfe hinter sich hatten. Doch die Deutschen hatten nur zehn Tage gebraucht, um den Großteil der alliierten Streitkräfte zu besiegen. Viele der britischen Truppen waren aus Calais und Dünkirchen evakuiert worden, doch Tausende hatten die Schiffe verpasst, darunter auch Lloyd.
Vermutlich stießen die Deutschen nun weiter Richtung Süden vor. Soviel Lloyd wusste, kämpften die Franzosen noch, doch ihre besten Einheiten waren in Belgien aufgerieben worden. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass die deutschen Wachen ständig mit einem triumphierenden Grinsen herumliefen, als wüssten sie, dass der Sieg so gut wie sicher war.
Lloyd war Kriegsgefangener, aber wie lange würde das so bleiben? Der Druck auf die britische Regierung, Frieden zu schließen, war mit Sicherheit hoch. Churchill würde einen Friedensschluss nicht einmal in Erwägung ziehen, aber er war ein Querdenker und Einzelgänger, anders als alle anderen Politiker; ein solcher Mann konnte rasch abgewählt werden. Und Männer wie Lord Halifax hätten kein Problem damit, einen Friedensvertrag mit den Nazis zu unterzeichnen. Gleiches gilt für einen Staatssekretär im Außenministerium, dachte Lloyd verbittert, einen gewissen Earl Fitzherbert. Er schämte sich, dass dieser Mann sein Vater war.
Sollte der Frieden bald kommen, würde Lloyds Gefangenschaftnicht lange dauern. Vielleicht würde er sie ausschließlich in diesem Stadion verbringen, um dann hager und sonnenverbrannt, aber heil und gesund in die Heimat zurückzukehren.
Sollten die Briten jedoch weiterkämpfen, sah die Sache völlig anders aus. Der letzte Krieg hatte mehr als vier Jahre gedauert. Die Vorstellung, vier Jahre seines Lebens in einem Kriegsgefangenenlager zu verbringen, war für Lloyd unerträglich.
Deshalb beschloss er, einen Fluchtversuch zu wagen.
Irgendwann würden die Gefangenen in ein dauerhaftes Lager verlegt werden müssen. Das wäre der geeignete Zeitpunkt zur Flucht. Aufgrund der Erfahrungen, die er in Spanien gesammelt hatte, nahm Lloyd an, dass die Gefangenenbewachung für die Wehrmacht keine Priorität besaß. Wenn jemand also die Flucht versuchte, kam er durch, oder die Deutschen erwischten ihn und stellten ihn an die Wand. So oder so war es einer weniger, den es durchzufüttern galt.
Die Gefangenen verbrachten den Rest des Tages damit, weiterhin mühsam die Latrinen auszuheben. Abgesehen von der Aussicht auf hygienische Verbesserungen hob das Projekt die Moral der Männer. Lloyd lag nachts wach, schaute hinauf zu den Sternen und überlegte sich weitere gemeinsame Aktivitäten. Er kam auf den Gedanken, einen sportlichen Wettbewerb zu veranstalten, eine Art Olympische Spiele für Kriegsgefangene.
Doch er sollte nicht mehr die Gelegenheit bekommen, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Am nächsten Morgen wurden sie verlegt.
Zuerst war Lloyd nicht sicher, in welche Richtung sie marschierten, doch es dauerte nicht lange, und sie erreichten eine breite, nach Osten führende Straße. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde man sie den ganzen Weg bis nach Deutschland marschieren lassen. Und waren sie erst mal dort, wäre eine Flucht ungleich schwieriger. Also musste er die Gelegenheit nutzen, und zwar jetzt. Je eher, desto
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