Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
können, dass es so viel Leid auf so engem Raum geben könnte. Wenn der Führer über den Krieg sprach, kamen Erik solche Bilder nie in den Sinn.
Auf einmal bemerkte er, dass der Mann, den sie hierhergetragen hatten, die Augen geschlossen hatte.
Oberstabsarzt Weiss kam zu ihnen, fühlte den Puls des Verwundeten und befahl hart: »Bringen Sie ihn in die Scheune. Und verschwenden Sie um Himmels willen keine Zeit mehr damit, mir Leichen zu bringen!«
Beinahe hätte Erik vor Wut und Enttäuschung aufgeschrien. Er und Hermann hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, nur um einen Toten hierherzuschleppen! Hinzu kam der Schmerz in seinen Armen, der allmählich in die Beine ausstrahlte.
Sie brachten die Leiche in die Scheune, in der bereits mehr als ein Dutzend tote junge Männer lagen.
Das war schlimmer als alles, was Erik je erwartet hatte. Die Wirklichkeit war so ganz anders als seine Vorstellung von Soldatentum und männlicher Bewährung. Anstatt Mut, Heldentum und Opferbereitschaft sah er Schmerz, Blut und Eingeweide, hörte Schreie und Stöhnen, erlebte nacktes Entsetzen, animalische Angst und den völligen Vertrauensverlust in die Wehrmachtsführung.
Inzwischen stand die Sonne tief am Himmel, und die Lage auf dem Schlachtfeld hatte sich verändert. Die französischen Verteidiger in Donchery wurden vom gegenüberliegenden Flussufer unter Beschuss genommen. Erik vermutete, dass die 1. Panzerdivision flussaufwärts mehr Glück gehabt hatte; jetzt eilten sie ihren Kameraden von der 2. Division an der Flanke zu Hilfe. Offenbar steckte deren Artilleriemunition nicht in den Ardennen fest.
Von neuem Mut beseelt liefen Erik und Hermann zum Fluss zurück und retteten einen weiteren Verwundeten. Als sie diesmal zum Verbandplatz zurückkamen, gab man ihnen zwei Blechteller mit Suppe. Sie machten zehn Minuten Pause und aßen. Es kostete Erik alle Mühe, wieder aufzustehen, sich die Trage zu schnappen und erneut zum Fluss zu laufen. Am liebsten hätte er sich hingelegt und die ganze Nacht durchgeschlafen.
Diesmal bot sich den beiden Sanitätern ein anderer Anblick. Panzer rollten auf Pontons über den Fluss. Die Deutschen am gegenüber liegenden Ufer lagen unter schwerem Feuer, aber sie schossen zurück, unterstützt von den Verstärkungen der 1. Panzerdivision.
Erik erfasste ein Hochgefühl, als er sah, dass doch noch die Chance bestand, das Gefecht zu gewinnen. Wie hatte er am Führer zweifeln können?
Immer wieder holten sie Verwundete vom Fluss, Stunde um Stunde, bis ihre Arme und Beine taub waren, jenseits von Schmerz und Erschöpfung. Ein paar ihrer Schützlinge waren ohne Bewusstsein, andere dankten ihnen, wieder andere verfluchten sie, und viele schrien nur. Einige überlebten, andere starben.
Gegen acht Uhr abends hatten die Deutschen am gegenüber liegenden Ufer einen Brückenkopf errichtet, und um zehn Uhr war er gesichert.
Bei Einbruch der Nacht endeten die Gefechte. Erik und Hermann suchten das Schlachtfeld weiter nach Verwundeten ab. Den letzten brachten sie um Mitternacht zum Verbandplatz. Dann legten sie sich unter einen Baum und schliefen vor Erschöpfung ein.
Am nächsten Tag rückten Erik und Hermann mit der 2. Panzerdivision nach Westen vor. Die Division durchbrach die Reste der französischen Verteidigungslinien. Zwei Tage später war sie bereits achtzig Kilometer weiter an der Oise und rückte in hohem Tempo durch unverteidigtes Gebiet vor.
Am 20. Mai, eine Woche nachdem sie überraschend aus den Wäldern der Ardennen hervorgebrochen waren, erreichten sie die Kanalküste.
Eriks Bewunderung für den Führer kannte keine Grenzen – erst recht, nachdem Oberstabsarzt Weiss ihm und Hermann erklärte, welche Taktik die Deutschen verfolgt hatten. »Unser Angriff auf Belgien war nur eine Finte«, sagte Weiss. »Damit sollten Franzosen und Engländer in eine Falle gelockt werden. Wir, die Panzerdivisionen, waren die Zähne dieser Falle. Ein Großteil der französischen Armee und fast das gesamte britische Expeditionskorps sind in Belgien von der Wehrmacht eingeschlossen. Sie sind von jeglichem Nachschub abgeschnitten, vollkommen hilflos … und geschlagen.«
»Das also war der Plan des Führers!«, rief Erik triumphierend.
»Ja«, sagte Weiss. »Niemand denkt wie unser Führer.«
Wie immer wusste Erik nicht, ob er es ernst meinte.
Lloyd Williams befand sich in einem Fußballstadion irgendwo zwischen Calais und Paris, zusammen mit mehr als tausend weiteren britischen Kriegsgefangenen. Die Männer
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