Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
besser. Lloyd hatte Angst – die Wachen waren bewaffnet –, aber er war fest entschlossen.
Von ein paar deutschen Stabsfahrzeugen abgesehen herrschte nicht viel Verkehr auf der Straße. Die meisten Leute waren zu Fuß unterwegs und gingen nach Westen, in die entgegengesetzte Richtung wie die Gefangenen. Sie hatten ihre Habseligkeiten aufHand- und Schubkarren geladen; einige trieben Vieh vor sich her. Es waren offensichtlich Flüchtlinge, deren Häuser und Höfe bei den Kämpfen zerstört worden waren. Lloyd konnte es nur recht sein: Ein entflohener Gefangener würde sich unter den Flüchtlingen gut verstecken können.
Die Bewachung der Gefangenen war ziemlich lasch. Die tausend Mann starke Kolonne wurde nur von zehn Deutschen begleitet. Die Führer der Wachmannschaft hatten ein Auto und ein Motorrad. Der Rest ging entweder zu Fuß oder fuhr auf Fahrrädern, die man vermutlich irgendwo requiriert hatte.
Trotzdem schien eine Flucht zunächst unmöglich zu sein. Hier gab es keine Hecken wie in England, die einem Deckung hätten bieten können, und die Straßengräben waren zu flach, um sich darin zu verstecken. Wer hier einfach losrannte, bot einem Schützen ein leichtes Ziel.
Schließlich erreichte die Gefangenenkolonne ein Dorf. Hier war es schwieriger für die Wachen, alle im Auge zu behalten. Die Einheimischen standen am Straßenrand und begafften die Gefangenen voller Neugier. Eine kleine Schafherde mischte sich unter sie. Kleine Häuser und Läden säumten die Straße. Hoffnungsvoll hielt Lloyd nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau. Irgendwo musste es eine Stelle geben, wo er sich rasch verstecken konnte – eine offene Tür, eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern, einen dichten Strauch. Jetzt musste er nur noch einen Moment abpassen, wenn keine der Wachen ihn beobachtete.
Ein paar Minuten später hatten sie das Dorf hinter sich gelassen, ohne dass sich Lloyd eine Chance geboten hätte.
Er ärgerte sich, ermahnte sich zugleich aber zur Geduld. Ihm würden sich schon noch andere Gelegenheiten bieten. Bis nach Deutschland war es weit. Andererseits würden die Deutschen mit jedem Tag, der verstrich, ihre Kontrolle über die eroberten Gebiete ausbauen, ihre Organisation verbessern, Ausgangssperren verhängen und Kontrollposten einrichten, um die Flüchtlingsströme zu überwachen. Noch war eine Flucht möglich, später vielleicht nicht mehr.
Es war heiß, und Lloyd zog seine Uniformjacke und die Krawatte aus. Er beschloss, beides so bald wie möglich loszuwerden. Aus der Nähe würde er mit seiner Khakihose und dem Hemd zwarnoch immer wie ein britischer Soldat aussehen, doch auf größere Entfernung war er sicher weniger auffällig.
Sie kamen durch zwei weitere Dörfer und erreichten schließlich eine kleine Stadt. Lloyd wurde nervös. Wenn sich ihm hier wieder keine Fluchtmöglichkeit bot, sah es düster für ihn aus, zumal er feststellte, dass er sich immer mehr an die Gefangenschaft gewöhnte. Das Weitermarschieren war leicht – mit wunden Füßen zwar, aber in relativer Sicherheit. Bei einer Flucht hingegen musste er sich den Kugeln der Wachmannschaft aussetzen.
Entschlossen schob Lloyd diese Gedanken zur Seite. Er durfte jetzt nicht wankelmütig werden.
Die Straße, die durch die Stadt führte, war ungünstigerweise ziemlich breit. Der Zug der Gefangenen blieb in der Mitte, sodass rechts und links viel Platz war – ideal für einen Schützen, sollte jemand zu fliehen versuchen. Einige Geschäfte hatten geschlossen, und hier und da waren die Gebäude vernagelt, aber Lloyd sah auch ein paar vielversprechende Gassen, Cafés mit offenen Türen und eine Kirche … doch er konnte nichts davon ungesehen erreichen.
Er musterte die Gesichter der Städter, die ihn und die anderen Gefangenen anstarrten. Hatten sie Mitgefühl? Würden sie sich daran erinnern, dass diese zerlumpten Gestalten für Frankreich gekämpft hatten? Oder war ihre Angst vor den Deutschen so groß, dass sie sich nicht in Gefahr begeben wollten? Teils, teils, vermutete Lloyd. Einige würden ihr Leben riskieren, um ihm zu helfen, während andere ihn den Deutschen ausliefern würden, ohne mit der Wimper zu zucken. Und er würde den Unterschied nicht sehen können, bis es zu spät war.
Sie erreichten das Stadtzentrum. Die Hälfte der Fluchtchancen hatte Lloyd bereits ungenutzt gelassen. Er musste endlich handeln.
Vor sich sah er eine Kreuzung. Dort warteten Fahrzeuge darauf, links abbiegen zu können; aber die Weiterfahrt wurde ihnen
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