Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
die Schwesternuniform sauber blieb.
Sie war überzeugt, ganz unauffällig zu erscheinen, bis Frieda plötzlich fragte: »Sag mal, hast du irgendwelchen Kummer?«
Carla erschrak. »Nein. Wie kommst du darauf?«
»Du wirkst so nervös.«
»Mir geht’s bestens.« Um das Thema zu wechseln, deutete Carla auf ein Plakat. »Schau mal.«
Die Regierung hatte im Lustgarten, dem Platz vor dem Berliner Dom, eine Ausstellung eröffnet. »Das Sowjetparadies« lautete der ironische Titel der Schau über den Kommunismus, die den Bolschewismus als jüdische Täuschung darstellte und die Russen als Untermenschen porträtierte. Doch es lief nicht alles so glatt, wie die Nazis es sich wünschten: Jemand hatte in ganz Berlin eine Parodie des Werbeplakats aufgehängt, auf dem zu lesen stand:
Ständige Ausstellung
Das NAZI-PARADIES
Krieg Hunger Lüge Gestapo
Wie lange noch?
Ein solches Plakat hing auch an der Straßenbahnhaltestelle, und sein Anblick wärmte Carla das Herz.
»Wer hängt diese Dinger wohl auf?«, fragte sie.
Frieda zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Wer immer es ist«, sagte Carla, »er hat Mut. Wenn man ihn fasst, wird man ihn umbringen.« Dann erinnerte sie sich an das, was sie in der Tasche hatte: Auch sie spielte mit ihrem Leben.
»Ja, er muss wirklich sehr mutig sein«, erwiderte Frieda.
Nun war sie es, die ein wenig nervös wirkte. Gehörte sie vielleicht zu den Leuten, die für diese Plakate verantwortlich waren? Wahrscheinlich nicht. Und Heinrich, ihr Freund? Er war genau die Art von engagiertem Moralapostel, der zu so etwas fähig war.
»Wie geht es Heinrich?«, erkundigte sich Carla.
»Er will heiraten.«
»Du nicht?«
Frieda senkte die Stimme. »Ich will keine Kinder.« In dieser Zeit grenzte eine solche Bemerkung an Defätismus. Von jungen Frauen erwartete man, dass sie dem Führer mit Freuden Kinder schenkten. Frieda nickte in Richtung des illegalen Plakats. »Ich will keine Kinder in dieses Paradies setzen.«
»Das geht mir ähnlich«, sagte Carla. Vielleicht war das einer der Gründe dafür gewesen, dass sie Dr. Ernst zurückgewiesen hatte.
Die Bahn kam, und die beiden jungen Frauen stiegen ein. Carla stellte die Einkaufstasche wie selbstverständlich auf ihrem Schoß ab, als wäre tatsächlich nur Kohl darin. Dann ließ sie den Blick über die anderen Fahrgäste schweifen und sah zu ihrer Freude, dass keiner von ihnen eine Uniform trug.
»Komm mit zu mir nach Hause«, schlug Frieda vor. »Wir können uns Werners Jazzaufnahmen anhören.«
»Würde ich ja gern, aber ich kann nicht«, erwiderte Carla. »Ich muss einen Besuch machen. Erinnerst du dich an die Rothmanns?«
Frieda schaute sich vorsichtig um. Rothmann war ein jüdischerName, doch zum Glück war niemand nahe genug, als dass er es gehört hätte. »Na klar«, raunte sie. »Er war mal unser Arzt.«
»Er darf eigentlich nicht mehr praktizieren. Eva Rothmann ist schon vor dem Krieg nach London gegangen und hat einen schottischen Soldaten geheiratet; aber ihre Eltern können nicht aus Deutschland raus. Ihr Sohn, Rudi, war Geigenbauer – ein sehr begabter, wie es heißt –, hat aber seine Arbeit verloren. Jetzt repariert er Instrumente und stimmt Klaviere.« Vier Mal im Jahr kam er zu den von Ulrichs, um den Steinway-Flügel zu stimmen. »Jedenfalls, ich habe versprochen, die Rothmanns heute Abend zu besuchen.«
»Oh«, sagte Frieda. Es war das langgezogene »Oh« von jemandem, der soeben das Licht der Erkenntnis geschaut hatte.
»Oh, was?«, fragte Carla.
»Jetzt verstehe ich, warum du die Tasche so an dich drückst, als wäre der Heilige Gral da drin.«
Carla erschrak. Frieda hatte ihr Geheimnis erraten! »Woher weißt du …?«
»Du hast gesagt, Dr. Rothmann dürfe eigentlich nicht mehr praktizieren. Das lässt darauf schließen, dass er es im Geheimen immer noch tut.«
Carla erkannte, dass sie Rothmann ungewollt verraten hatte. Sie hätte klipp und klar sagen sollen, dass er nicht mehr praktizieren dürfe . Zum Glück war ihr dieser Fehler bei der besten Freundin unterlaufen, der sie vertrauen konnte. »Was bleibt ihm anderes übrig?«, sagte Carla. »Die Leute kommen zu ihm und bitten ihn um Hilfe. Er kann die Kranken ja nicht einfach wegschicken. Und es ist ja nicht so, als würde er Geld damit verdienen. Seine Patienten sind Juden und arme Leute, die ihn mit ein paar Kartoffeln oder Eiern bezahlen.«
»Du musst ihn vor mir nicht verteidigen«, sagte Frieda. »Für mich ist er ein mutiger Mann. Und du
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