Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
bist ebenfalls mutig. Medizinische Vorräte aus dem Krankenhaus zu stehlen … Ist es das erste Mal?«
Carla schüttelte den Kopf. »Das dritte Mal. Aber ich komme mir dumm vor, dass ich mich von dir habe ertappen lassen.«
»Du bist nicht dumm. Ich kenne dich nur viel zu gut.«
Die Bahn näherte sich Carlas Haltestelle. »Wünsch mir Glück«, sagte sie und stieg aus.
Als sie das Haus betrat, hörte sie die zögerlichen Klänge eines Klaviers aus der oberen Etage: Maud unterrichtete einen ihrer Schüler. Carla war froh. Der Klavierunterricht brachte ein bisschen Freude in das Leben ihrer Mutter und sicherte ihr ein bescheidenes Einkommen.
Carla zog ihren Regenmantel aus, ging in die Küche und begrüßte Ada. Obwohl Maud ihr Gehalt nicht mehr bezahlen konnte, war die Zofe geblieben. Jetzt hatte sie abends eine Putzstelle in einem Bürogebäude, und tagsüber erledigte sie die Hausarbeit für die von Ulrichs gegen Kost und Logis.
Carla trat ihre Schuhe von den Füßen und rieb die Zehen aneinander, um die Schmerzen zu vertreiben. Ada machte ihr eine Tasse Muckefuck.
Maud kam in die Küche. Ihre Augen funkelten. »Ich habe einen neuen Schüler«, verkündete sie und zeigte Carla eine Handvoll Geldscheine. »Und er will jeden Tag Unterricht.« Besagter neuer Schüler war noch oben und übte Tonleitern. Sein unbeholfenes Spiel klang, als würde eine Katze über die Tasten laufen.
»Das ist ja großartig«, sagte Carla. »Wer ist er?«
»Ein Nazi natürlich. Aber wir brauchen das Geld.«
»Wie heißt er?«
»Joachim Koch. Er ist noch sehr jung und ziemlich schüchtern. Carla, halte bitte deine Zunge im Zaum, wenn du ihn kennenlernst, und sei höflich.«
»Ich versprech’s.«
Maud verschwand wieder nach oben.
Carla trank ihren Kaffee. Inzwischen hatte sie sich wie die meisten Leute an Ersatzkaffee gewöhnt.
Ein paar Minuten lang plauderte sie mit Ada. Die einst füllige Zofe war dünn geworden. Im Deutschland dieser Tage gab es aufgrund der Versorgungslage nicht mehr viel dicke Menschen, aber bei Ada kamen noch andere Gründe für den Gewichtsverlust hinzu. Der Tod ihres behinderten Sohnes war ein schrecklicher Schlag für sie gewesen. Sie war lethargisch geworden. Sie machte ihre Arbeit zwar noch immer ordentlich, saß dann aber stundenlang mit leerem Blick am Fenster. Carla mochte Ada und teilte ihren Kummer, wusste aber nicht, wie sie ihr helfen sollte.
Das Klavierspiel endete. Kurz darauf hörte Carla zwei Stimmenim Flur, die ihrer Mutter und die eines Mannes. Sie nahm an, dass Maud Herrn Koch hinausbegleitete – und erschrak deshalb umso mehr, als ihre Mutter die Küche betrat, gefolgt von einem jungen Soldaten in der makellosen Uniform eines Wehrmachtsleutnants.
»Das ist meine Tochter«, sagte Maud fröhlich. »Carla, das ist Leutnant Koch, ein neuer Schüler.«
Koch war ein attraktiver, schüchtern wirkender junger Mann Mitte zwanzig. Er trug einen blonden Schnurrbart und erinnerte Carla an Jugendbilder ihres Vaters.
Mit einem Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals. Die Tasche mit den gestohlenen Medikamenten und dem Verbandsmaterial stand neben ihr auf einem Küchenstuhl. Würde sie sich Leutnant Koch gegenüber ebenso verraten, wie es bei Frieda geschehen war? Das käme sie alle teuer zu stehen.
Sie konnte kaum sprechen. »Ich … äh … freue mich, Sie kennenzulernen«, brachte sie stockend hervor.
Maud musterte sie neugierig. Die Nervosität ihrer Tochter überraschte sie. Schließlich wollte sie nur, dass Carla freundlich zu dem neuen Schüler war, denn sie hoffte, Koch zu behalten. Außerdem wusste sie nicht, was dagegensprach, einen Wehrmachtsoffizier mit in die Küche zu nehmen. Von den gestohlenen medizinischen Gütern in Carlas Einkaufstasche hatte sie ja keine Ahnung.
Koch verbeugte sich. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«
»Und das ist Ada, unsere Zofe.«
Ada warf dem Mann einen feindseligen Blick zu, aber er schien es nicht zu bemerken. Eine Zofe war seine Aufmerksamkeit nicht wert. Der Leutnant stützte die Hände auf die Lehne des Stuhls, auf den Carla ihre Tasche gestellt hatte. »Wie ich sehe, sind Sie Krankenschwester«, sagte er.
»Ja.« Carla versuchte, ruhig zu erscheinen. Wusste Koch, wer die von Ulrichs waren? Vielleicht wusste er nicht einmal mehr, was ein Sozialdemokrat war; schließlich war die Partei seit neun Jahren verboten. Möglicherweise hatte sich der einst berüchtigte Ruf der Familie von Ulrich nach Walters Tod verflüchtigt.
Jedenfalls schien
Weitere Kostenlose Bücher