Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Haken und zog den Mantel darüber, sodass sie auf den ersten Blick nicht zu sehen war.
Ich hab’s geschafft, dachte sie erleichtert und bemerkte erst jetzt, dass sie ein wenig zitterte. Sie atmete tief durch, riss sich zusammen, öffnete die Tür … und sah Dr. Ernst vor sich stehen.
War er ihr gefolgt? Würde er sie jetzt des Diebstahls bezichtigen? Er wirkte allerdings nicht feindselig, im Gegenteil; er schaute freundlich drein. Vielleicht war sie ja doch noch einmal davongekommen.
»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte sie. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Er lächelte. »Wie geht es Ihnen, Schwester? Läuft alles gut?«
»Perfekt, würde ich sagen«, antwortete Carla und fügte schuldbewusst hinzu: »Aber es ist wohl eher an Ihnen zu sagen, ob es gut läuft oder nicht.«
»Oh, ich kann mich nicht beschweren«, erwiderte er.
Geht es darum, fragte sie sich. Spielt er nur mit mir? Zögert er sadistisch den Moment hinaus, in dem er mich des Diebstahls anklagen will?
Carla wartete und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.
Dr. Ernst schaute auf ihren Wagen. »Warum sind Sie damit in die Umkleide gefahren?«
»Ich wollte etwas …« Carla verstummte, dachte fieberhaft nach und improvisierte: »Etwas aus meinem Regenmantel.« Sie bemühte sich, die Angst aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Ein Taschentuch.«Hör auf zu plappern, ermahnte sie sich. Er ist Arzt, kein Gestapo-Mann. Dennoch flößte er ihr Angst ein.
Dr. Ernst blickte erheitert drein, als würde er Carlas Nervosität genießen. »Und jetzt?«
»Jetzt fahre ich den Wagen zurück.«
»Ja, Ordnung muss sein. Sie sind eine gute Krankenschwester, Fräulein von Ulrich … oder muss ich Frau sagen?«
»Fräulein.«
»Wir sollten öfter miteinander reden.«
So, wie der Arzt sie anlächelte, erkannte Carla, dass es ihm nicht um irgendwelche gestohlenen Medizinvorräte ging. Er würde sie gleich bitten, mit ihm auszugehen. Sollte sie Ja sagen, würden Dutzende Kolleginnen sie beneiden.
Doch Carla hatte kein Interesse an Dr. Ernst. Vielleicht lag es daran, dass sie schon einmal einen äußerst attraktiven Schürzenjäger geliebt hatte, Werner Franck – und der hatte sich als selbstsüchtiger Feigling erwiesen. Carla hatte das unbestimmte Gefühl, dass Dr. Ernst genauso war.
Allerdings wollte sie nicht das Risiko eingehen, ihn zu verärgern. Also lächelte sie und schwieg.
»Mögen Sie Wagner?«, fragte der Arzt.
Carla wusste genau, worauf es hinauslief. »Ich habe leider keine Zeit für Musik«, antwortete sie. »Ich muss mich um meine alte Mutter kümmern.« Allerdings war Maud erst einundfünfzig und erfreute sich bester Gesundheit.
»Ich habe zwei Karten für ein Konzert morgen. Man gibt das Siegfried-Idyll.«
»Ein Kammerstück«, sagte Carla. »Wie ungewöhnlich. Wagner hat meist im großen Rahmen komponiert.«
Dr. Ernst blickte zufrieden drein. »Wie ich sehe, verstehen Sie etwas von Musik.«
Carla wünschte sich, ihre unbedachte Bemerkung zurücknehmen zu können; damit hatte sie ihn nur ermutigt. »Meine Familie ist musisch. Meine Mutter gibt Klavierunterricht.«
»Dann müssen Sie mitkommen. Einen Abend kann sich doch bestimmt jemand anders um Ihre Mutter kümmern.«
»Tut mir leid, es geht wirklich nicht«, sagte Carla. »Trotzdem, danke für die Einladung.«
Sie sah Zorn in seinen Augen. Er war es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. Carla drehte sich um und schob den Wagen vor sich her.
»Dann vielleicht ein andermal?«, rief Dr. Ernst ihr hinterher.
»Sie sind wirklich sehr freundlich«, erwiderte Carla, ohne langsamer zu werden. Sie hatte Angst, dass der Arzt ihr folgen würde, doch ihre unverfängliche Antwort auf seine letzte Frage schien ihn ein wenig beruhigt zu haben. Als sie über die Schulter blickte, war er verschwunden.
Carla verstaute den Rollwagen. Jetzt konnte sie ein bisschen leichter atmen.
Sie kehrte auf ihre Station zurück, schaute nach den Patienten und schrieb ihre Berichte. Dann war es an der Zeit, an die Spätschicht zu übergeben.
Carla zog ihren Regenmantel an und warf sich die Tasche über die Schulter. Jetzt galt es, mit dem Diebesgut aus dem Gebäude zu kommen. Wieder stieg Furcht in ihr auf.
Frieda Franck hatte zusammen mit Carla Feierabend, und so verließen die beiden jungen Frauen das Krankenhaus gemeinsam. Frieda hatte keine Ahnung, dass Carla Konterbande bei sich trug. Im Licht der Junisonne gingen sie zur Straßenbahnhaltestelle. Carla trug ihren Mantel hauptsächlich, damit
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