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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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wusste es nicht.
    Nach Wels sprach Hitler noch einmal. Diesmal war sein Tonfall deutlich anders. Lloyd erkannte, dass der Reichskanzler sich mit seiner ersten Rede nur aufgewärmt hatte. Seine Stimme war nun lauter und härter, seine Phrasen extremer, sein Tonfall voller Verachtung. Ständig gestikulierte er aggressiv mit dem rechten Arm, schlug aufs Pult, ballte die Faust, legte die Hand aufs Herz und wischte alle Opposition beiseite. Jeder seiner leidenschaftlichen Phrasen folgte der ohrenbetäubende Jubel seiner Anhängerschaft. Und jeder Satz, erkannte Lloyd, drückte eine wilde, alles verschlingende Wut aus.
    Verächtlich behauptete Hitler, es gar nicht nötig gehabt zu haben, das Ermächtigungsgesetz einzubringen. »Wir appellieren in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir auch ohnedem hätten nehmen können!«, höhnte er.
    Heinrich schaute besorgt drein und verließ die Loge. Minuten später sah Lloyd ihn unten im Plenum, wo er seinem Vater etwas ins Ohr flüsterte. Als er zurückkam, sah er bestürzt aus.
    »Haben Sie Ihre schriftlichen Zusicherungen bekommen?«, fragte Lloyd.
    Heinrich konnte Lloyd nicht in die Augen schauen. »Das Dokument wird gerade getippt«, erwiderte er.
    Hitler beendete währenddessen seine Rede mit einer Verhöhnung der Sozialdemokraten. Er wollte ihre Stimmen gar nicht. »Deutschland soll frei werden«, rief er mit heiserer, bellender Stimme, »aber nicht durch Sie!«
    Anschließend sprachen kurz die Vorsitzenden der anderen Parteien. Die meisten wirkten betroffen, erklärten jedoch ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz. Auch Prälat Kaas verkündete, das Zentrum werde die Gesetzesvorlage billigen. Bis auf die Sozialdemokraten stimmten alle Parteien dem Antrag zu.
    Als das Abstimmungsergebnis verkündet wurde, brach bei den Nazis Jubel aus. Sie stürmten zur Regierungsbank und sangen das Horst-Wessel-Lied, die Arme zum Gruß erhoben.
    Lloyd hatte es die Sprache verschlagen. Er hatte gesehen, wie schiere Macht brutal angewendet worden war, und es war ein hässlicher Anblick gewesen.
    Ohne ein weiteres Wort zu Heinrich verließ er die Loge.
    In der Lobby traf er Walter von Ulrich an, der weinte. Immer wieder wischte er sich mit einem weißen Taschentuch über das Gesicht, doch die Tränen wollten nicht versiegen. Außer bei Beerdigungen hatte Lloyd einen Mann noch nie so weinen sehen. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte.
    »Mein Leben war ein einziges großes Scheitern«, sagte Walter. »Das ist das Ende aller Hoffnung. Die deutsche Demokratie ist tot.«

    Am Samstag, dem 1. April, wurden alle jüdischen Geschäfte boykottiert. Lloyd und Ethel gingen durch Berlin und beobachteten ungläubig, was sich auf den Straßen abspielte. Ethel machte sich Notizen für ihr Buch. Davidsterne wurden mit weißer Farbe auf die Schaufenster jüdischer Geschäfte gemalt, und Braunhemden standen vor den Eingängen und schüchterten jeden ein, der hineinwollte. Die Kanzleien jüdischer Anwälte und die Praxen jüdischer Ärzte waren abgesperrt. Lloyd sah ein paar Braunhemden, die Patienten davon abhielten, Dr. Rothmann, den Hausarzt der vonUlrichs, aufzusuchen, doch dann forderte ein kantiger Kohlenschlepper die Braunhemden auf, sich zu verpissen, und sie zogen von dannen, um sich leichtere Beute zu suchen. »Wie können Menschen nur so viel Hass empfinden?«, flüsterte Ethel erschüttert.
    Lloyd dachte an Bernie, seinen Stiefvater, den er liebte. Bernie Leckwith war Jude. Sollte der Faschismus auf Großbritannien übergreifen, würde auch Bernie das Ziel solchen Hasses sein. Allein die Vorstellung ließ Lloyd schaudern.
    Am Abend wurde im Bistro Robert eine Art Totenwache gehalten. Obwohl niemand sie organisiert zu haben schien, wimmelte es um acht Uhr nur so von SPD -Leuten, Mauds Journalistenkollegen und Roberts Freunden aus der Theaterszene. Die Optimisten unter ihnen erklärten, die Freiheit sei für die Dauer der Wirtschaftskrise nur in Winterschlaf gefallen, aus dem sie irgendwann aufwachen würde. Die anderen trauerten einfach nur.
    Lloyd trank nur wenig, denn zu viel Alkohol vernebelte seine Gedanken. Er fragte sich, was die deutsche Linke hätte tun können, um die Katastrophe zu verhindern, doch er wusste keine Antwort darauf.
    Maud erzählte ihnen von Kurt, Adas Baby. »Sie haben ihn aus dem Krankenhaus wieder nach Hause gebracht, und im Augenblick scheint es ihm ganz gut zu gehen. Aber sein Gehirn ist geschädigt. Er wird nie ein normales Kind

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