Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
mich. Ich glaube, er sucht nach einer Mutterfigur.«
Mutterfigur, dachte Carla. Da war nichts Mütterliches an Mauds Beziehung zu Joachim Koch.
Maud fuhr fort: »Er ist sehr naiv. Er hat uns erzählt, dass für den 28. Juni eine neue Offensive an der Ostfront geplant ist. Er hat sogar den Codenamen erwähnt: Fall Blau.«
»Wenn er so weitermacht«, murmelte Erik, »werden sie ihn an die Wand stellen.«
»Da ist er nicht der Einzige«, sagte Carla. »Ich habe jemandem erzählt, was ich erfahren habe. Jetzt soll ich Joachim überreden, mir den genauen Plan zu besorgen.«
»Um Himmels willen!« Erik war schockiert. »Das ist Spionage! Du bist in größerer Gefahr als ich an der Ostfront!«
»Mach dir keine Sorgen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Joachim so etwas tun würde«, sagte Carla.
»Sei dir da nicht so sicher«, warf Maud ein.
Alle schauten sie verwundert an.
»Ich glaube, für mich würde er es tun«, fügte sie hinzu. »Wenn ich ihn richtig darum bitte.«
»Ist er wirklich so naiv?«, fragte Erik.
Maud blickte ihn trotzig an. »Er ist in mich verliebt.«
»Oh.« Die Vorstellung, dass seine Mutter eine romantische Beziehung zu einem jungen Mann hatte, machte Erik verlegen.
»Wie dem auch sei«, sagte Carla, »wir können das nicht tun.«
»Warum nicht?«, wollte Erik wissen.
»Weil du sterben könntest, wenn die Russen die Schlacht gewinnen.«
»Vielleicht sterbe ich auch so.«
Carla hob vor Aufregung die Stimme. »Aber dann hätten wir den Russen geholfen, dich zu töten!«
»Ich will trotzdem, dass ihr es tut«, sagte Erik entschlossen und starrte auf das karierte Tischtuch, doch was er sah, war zweitausend Kilometer weit entfernt.
»Warum?«, fragte Carla.
»Ich denke ständig an diese armen Menschen, die sich an den Händen hielten und die Rampe in den Steinbruch hinuntergingen.« Erik krallte die Finger ins Tischtuch. »Ich riskiere gern mein Leben, wenn wir dem Morden dadurch Einhalt gebieten können. Ich will mein Leben riskieren, weil ich mich dann besser fühle. Nicht nur, was mich selbst angeht. Auch, was Deutschland betrifft.«
Carla zögerte noch immer. »Bist du sicher?«
»Ja.«
»Dann werde ich es tun«, sagte Carla.
Thomas Macke ermahnte seine Männer – Wagner, Richter und Schneider –, ihr bestes Benehmen an den Tag zu legen. »Werner Franck ist zwar nur Oberleutnant, aber er arbeitet für General Dorn. Ich will, dass er den bestmöglichen Eindruck von uns und unserer Arbeit bekommt. Also keine Flüche, keine Witze und keine Grobheiten, Männer, es sei denn, es ist absolut notwendig. Sollten wir einen kommunistischen Spion fassen, können Sie ihn zusammentreten. Aber ich will nicht, dass Sie sich einfach jemanden von der Straße schnappen, um sich abzureagieren.« Normalerweise kniff Macke bei solchen Dingen beide Augen zu. Schließlich trug es dazu bei, dass die Leute es sich zweimal überlegten, bevor sie die Nazis verärgerten. Doch Franck war vielleicht ein bisschen empfindlich, was das betraf.
Werner erschien auf seinem Motorrad pünktlich vor der Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße. Sie stiegen gemeinsam in den Überwachungswagen mit der Drehantenne auf dem Dach. Der Wagen war mit so viel Elektronik vollgestopft, dass kaum noch Platz blieb. Richter setzte sich ans Steuer, und sie fuhren am frühen Abend durch die Stadt – jener Tageszeit, zu der Spione ihre Nachrichten am liebsten sendeten.
»Warum ist das so?«, fragte Werner.
»Die meisten Spione gehen einem ganz normalen Beruf nach«, erklärte Macke. »Das ist Teil ihrer Fassade. Tagsüber arbeiten sie in einem Büro oder einer Fabrik.«
»Verstehe«, sagte Werner. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
Macke war besorgt, dass sie heute Abend nichts auffangen würden. Er hatte Angst, man würde ihm die Schuld an den Rückschlägen geben, die die deutsche Wehrmacht in Russland einstecken musste. Er hatte sein Bestes getan, aber im Dritten Reich zählten weder Versuch noch Bemühen, sondern nur der Erfolg.
Manchmal kam es vor, dass Macke und seine Leute kein Signal empfingen. Dann wieder fingen sie gleich zwei oder drei ab,und Macke musste sich entscheiden, welches sie verfolgen und welches ignorieren sollten. Er war sicher, dass es mehr als ein Spionagenetz in der Stadt gab, und vermutlich wussten diese Netze noch nicht einmal von der Existenz des jeweils anderen. Macke versuchte das Unmögliche mit unzureichenden Mitteln.
Sie befanden sich gerade in der Nähe des Potsdamer Platzes,
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