Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
würden, der Kontakt zu Moskau aufnehmen kann … Wir könnten den Verlauf des Krieges ändern«, fuhr Carla aufgeregt fort.
»Ja, wenn …«, sagte Frieda.
Das war der Beweis. Friedas normale Reaktion wäre Erstaunen gewesen, lebhaftes Interesse und weitere Fragen. Heute aber gab sie nur ein paar belanglose Phrasen von sich.
Carla ging nach Hause und erzählte Maud, sie habe mit ihrer Vermutung richtiggelegen.
Am nächsten Tag im Krankenhaus kam Frieda auf Carlas Station. Sie sah aufgeregt aus. »Ich muss dringend mit dir reden.«
Carla wechselte gerade den Verband einer jungen Frau, die sich bei einer Explosion in einer Munitionsfabrik schwere Verbrennungen zugezogen hatte. »Geh in die Umkleide«, sagte sie. »Ich komme nach, so schnell ich kann.«
Fünf Minuten später entdeckte sie Frieda in dem kleinen Raum, wo sie am offenen Fenster rauchte. »Was ist denn?«, fragte Carla.
Frieda drückte die Zigarette aus. »Es geht um deinen Leutnant Koch.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Du musst mehr über ihn herausfinden.«
»Ich muss? Wovon redest du eigentlich?«
»Er hat Zugang zu sämtlichen Plänen für den Fall Blau. Wir wissen zwar ein wenig darüber, aber Moskau braucht Einzelheiten.«
Frieda setzte verwirrend viel voraus, doch Carla spielte mit. »Ich kann ihn ja mal fragen.«
»Nein. Du musst ihn dazu bringen, dass er dir den ganzen Plan gibt, egal wie.«
»Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Er ist nicht dumm. Glaubst du nicht, dass er …«
Frieda hörte nicht einmal zu. »Und dann musst du den Plan abfotografieren, hörst du?«, unterbrach sie Carla und zog ein kleines Stahlkästchen aus der Tasche, ungefähr so groß wie eine Zigarettenschachtel, aber länger und schmaler. »Das ist eine Miniaturkamera, die speziell für das Abfotografieren von Dokumenten konstruiert wurde.« Carla bemerkte das Logo »Minox« auf der Seite. »Pro Film kannst du elf Bilder schießen. Hier sind drei Filme.« Sie holte drei winzige Kassetten hervor. »Und so lädst du den Film.« Frieda zeigte es ihr. »Um ein Bild zu knipsen, schaust du durch dieses Fenster hier. Wenn du unsicher bist, schlag in der Gebrauchsanweisung nach.«
Carla hatte Frieda noch nie so energisch erlebt. »Ich muss erst darüber nachdenken«, sagte sie.
»Dafür ist keine Zeit. Das ist doch dein Regenmantel, oder?«
»Ja, aber …«
Frieda steckte Kamera, Film und Bedienungsanleitung in die Manteltasche. Sie schien erleichtert zu sein, dass sie das Zeug endlich los war. »Ich muss jetzt gehen«, verkündete sie und ging zur Tür.
»Frieda …«
Frieda blieb noch einmal stehen und drehte sich zu Carla um. »Ja?«
»Du verhältst dich nicht gerade wie eine Freundin.«
»Das hier ist wichtiger als jede Freundschaft.«
»Du hast mich in die Enge getrieben.«
»Du hast diese Situation doch selbst heraufbeschworen, als du mir von Joachim Koch erzählt hast. Tu jetzt nicht so, als hättest du nicht gewollt, dass ich damit etwas anfange.«
Da hatte sie recht. Carla hatte die Situation tatsächlich selbstherbeigeführt. Aber sie hatte nicht erwartet, dass es so laufen würde. »Und wenn ich Nein sage?«
»Dann wirst du vermutlich den Rest deines Lebens unter der Herrschaft der Nazis verbringen.« Frieda ging hinaus.
»Scheiße«, fluchte Carla.
Sie stand allein im Umkleideraum und dachte nach. Sie konnte die kleine Kamera noch nicht einmal ohne Risiko loswerden. Das Ding steckte in ihrer Manteltasche; sie konnte es schwerlich in den Krankenhausmüll werfen. Sie würde das Gebäude verlassen und eine Möglichkeit finden müssen, wo sie sich des Fotoapparats unauffällig entledigen konnte.
Aber wollte sie das überhaupt?
Es kam ihr unwahrscheinlich vor, dass sie Leutnant Koch überreden konnte, eine Kopie des Schlachtplans aus dem Bendlerblock zu schmuggeln und ihr zu bringen, egal wie naiv er war.
Aber was sie nicht schaffen konnte, würde vielleicht Maud gelingen …
Doch Carla hatte Angst. Sollte man sie schnappen, würde es keine Gnade geben. Man würde sie verhaften und foltern. Sie dachte an Rudi Rothmann, wie er stöhnend und mit gebrochenen Knochen auf dem Boden gelegen hatte. Und sie erinnerte sich an ihren Vater, den die Gestapo so schrecklich zusammengeschlagen hatte, dass er unmittelbar nach seiner Haftentlassung starb. Und Carlas Verbrechen wäre schwerer als das von Rudi und ihrem Vater; entsprechend bestialisch würde die Vernehmung ausfallen. Natürlich würde man sie hinrichten … aber erst nach langem Verhör
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