Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
herumgerissen. Jemand bog ihm die Arme auf den Rücken, und er spürte Metall an den Handgelenken. Zum ersten Mal im Leben hatte man ihm Handschellen angelegt. Das hier war nicht bloß eine weitere Keilerei. Man hatte ihn geschlagen und getreten, doch ihm stand noch Schlimmeres bevor.
»Steh auf«, befahl ihm jemand auf Deutsch.
Lloyd kämpfte sich hoch. Sein Kopf pochte vor Schmerz. Er sah, dass Robert und Jörg ebenfalls Handschellen trugen. Robert blutete aus dem Mund, und Jörgs linkes Auge war zugeschwollen. Ein halbes Dutzend Braunhemden bewachte sie. Die anderen tranken die Gläser und Flaschen leer, die übrig geblieben waren, oder standen am Buffet und schlugen sich den Bauch voll.
Sämtliche Gäste waren verschwunden. Lloyd fiel ein Stein vom Herzen, dass auch seine Mutter entkommen war.
Die Tür des Restaurants öffnete sich, und Walter kam wieder herein. »Kriminalinspektor Macke!«, sagte er streng und bewies damit die für Politiker typische Eigenheit, sich jeden Namen merken zu können. Mit aller Autorität, die er aufbringen konnte, fragte er: »Was hat das zu bedeuten? Das ist ein Skandal!«
Macke wies auf Robert und Jörg. »Diese beiden Männer sind homosexuell«, stieß er hervor, »und dieser Junge hier hat einen Hilfspolizisten angegriffen, als der ihn verhaften wollte.«
Walter deutete auf die Tür und den Mann, der die Kasse geplündert hatte. »Sind Polizisten heutzutage etwa auch gemeine Diebe?«
»Ein Polizist? Da hat wohl eher ein Gast die Verwirrung ausgenutzt, die durch die Verhaftungen entstanden ist.«
Mehrere Braunhemden lachten hämisch.
»Sie waren doch Polizeibeamter, nicht wahr, Herr Macke?«, sagte Walter. »Bestimmt waren Sie früher einmal stolz auf sich. Was sind Sie jetzt?«
Die Bemerkung traf Macke wie ein Schlag ins Gesicht. »Wir stellen die Ordnung wieder her. Zum Wohle von Volk und Vaterland!«
»Hatten Sie von Anfang an die Absicht, jemanden zu verhaften?«, hakte Walter nach. »Und kommen die Gefangenen in ein ordentliches Gefängnis, oder landen sie in irgendeinem Keller?«
»Wir bringen sie in die Polizeikaserne an der Friedrichstraße«, erwiderte Macke indigniert.
Lloyd sah, wie ein zufriedener Ausdruck über Walters Gesicht huschte. Erst jetzt wurde ihm klar, wie geschickt Walter den Inspektor beeinflusst hatte: Indem er an den letzten Rest seiner Berufsehre appellierte, hatte er Macke dazu gebracht, ihm seine wahren Absichten zu enthüllen. Jetzt wusste Walter wenigstens, wohin Lloyd und die anderen gebracht werden sollten.
Aber was würde in der Kaserne geschehen?
Lloyd war noch nie verhaftet worden. Doch wer im Londoner Eastend aufgewachsen war wie er, kannte eine Menge Leute, dieÄrger mit der Polizei gehabt hatten. Den größten Teil seines Lebens hatte Lloyd Straßenfußball mit Jungen gespielt, deren Väter immer wieder mal im Knast gesessen hatten. Deshalb kannte er auch den Ruf des Polizeireviers an der Leman Street in Aldgate. Nur wenige kamen dort unverletzt wieder heraus. Die Leute flüsterten, die Wände dort seien voller Blut. Wie groß war da die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Friedrichstraße besser aussah?
»Sie haben aus dieser Sache einen diplomatischen Zwischenfall gemacht, Herr Kriminalinspektor«, sagte Walter. Lloyd nahm an, dass er immer wieder Mackes Rang hervorhob, damit der Kerl sich endlich mehr wie ein Beamter und weniger wie ein Straßenschläger aufführte. »Sie haben drei Ausländer verhaftet, zwei Österreicher und einen Engländer.« Er hob die Hand, um jedem Protest zuvorzukommen. »Jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher. Die Botschaften beider Länder werden bereits informiert. Ich bin sicher, dass deren Vertreter innerhalb der nächsten Stunde beim Außenministerium in der Wilhelmstraße vorstellig werden.«
Ob das stimmt, fragte sich Lloyd.
Macke grinste böse. »Das Außenministerium hat Besseres zu tun, als zwei Schwuchteln und einem halbwüchsigen Schläger zu helfen.«
»Unser Außenminister Herr von Neurath ist kein Mitglied Ihrer Partei«, erwiderte Walter frostig. »Er könnte durchaus die Interessen des Vaterlandes in den Vordergrund stellen.«
»Herr von Neurath tut, was man ihm sagt. Aber das werden Sie schon noch herausfinden. Und jetzt verschwinden Sie. Sie behindern mich in der Ausübung meiner Pflicht.«
»Ich warne Sie!«, drohte Walter. »Sie sollten sich buchstabengetreu an die Vorschriften halten, sonst gibt es Ärger.«
»Machen Sie, dass Sie wegkommen«, spie Macke
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