Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
auf Macke zu. Der richtete die P 38 auf ihn. »Stehen bleiben, oder ich schieße!«
»Das werden Sie nicht tun.« Werner kam näher. »Sie müssen mich verhören und die anderen finden.«
Macke richtete die Waffe auf Werners Beine. »Ich kann dich auch mit einer Kugel im Bein verhören«, sagte er und drückte ab.
Das Geschoss verfehlte sein Ziel. Werner sprang vor, schlug Macke die Waffe aus der Hand und rannte an ihm vorbei.
Macke raffte die Waffe vom Boden auf und riss sie in dem Moment hoch, als Werner die Schultür erreichte. Macke zielte auf die Beine und feuerte erneut. Die ersten drei Schüsse verfehlten ihr Ziel, und Werner stürmte durch die Tür.
Macke schoss noch einmal. Diesmal schrie Werner auf und fiel zu Boden.
Macke stieß einen Triumphschrei aus und rannte durch den Flur auf Werner zu. Hinter sich hörte er die anderen aus der Aula kommen.
In diesem Moment explodierte mit ohrenbetäubendem Krachen das Dach der Schule, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Flüssiges Feuer strömte wie ein Wasserfall herab. Macke schrie gellend, zuerst vor Entsetzen, dann vor Schmerz, als seine Kleidung Feuer fing. Kreischend fiel er zu Boden.
Dann gab es nur noch Stille und Dunkelheit.
In der Eingangshalle des Krankenhauses waren die Ärzte damit beschäftigt, die Verletzten nach der Schwere der Fälle einzuteilen. Die Leichtverletzten wurden in den Wartebereich der Notaufnahme geschickt, wo zumeist Schwesternschülerinnen ihnen die Wunden säuberten und sie mit Aspirin versorgten. Die schwereren Fälle wurden direkt in der Eingangshalle notbehandelt und dann zu den Spezialisten nach oben geschickt. Und die Toten wiederum wurden nach draußen auf den Hof getragen und auf den kalten Boden gelegt, wo sie blieben, bis jemand sie abholte.
Dr. Ernst untersuchte gerade ein schreiendes Brandopfer und verschrieb Morphium. »Ziehen Sie ihm anschließend die Kleider aus und verteilen Sie Salbe auf die Verbrennungen«, wies er Carla und Frieda an und ging zum nächsten Verwundeten.
Carla zog eine Spritze auf, während Frieda vorsichtig die verbrannte Kleidung des Verwundeten wegschnitt. Der Mann hatte schwere Verbrennungen an der gesamten rechten Körperseite; die linke Seite war nicht ganz so schlimm verletzt. Dort, am linken Oberschenkel, fand Carla dann auch eine geeignete Stelle für die Injektion. Sie wollte dem Patienten gerade die Spritze geben, als sie sein Gesicht sah.
Sie erstarrte.
Sie kannte dieses feiste, runde Gesicht mit dem Schnauzbart, der wie ein Schmutzfleck unter der Nase aussah. Vor zwei Jahren war dieser Mann in ihr Elternhaus gekommen, hatte ihren Vater verhaftet und so schrecklich gefoltert, dass er seinen Verletzungen erlegen war.
Der Mann war Kriminalkommissar Thomas Macke von der Gestapo.
Carlas Hände zitterten. Du hast meinen Vater umgebracht, ging es ihr durch den Kopf, während sie in das Gesicht des Mannes blickte. Jetzt könnte ich dich umbringen.
Es wäre so einfach. Sie könnte ihm die vierfache Dosis Morphium verabreichen. Niemand würde etwas bemerken, besonders nicht in einer Nacht wie dieser. Macke würde sofort das Bewusstsein verlieren und binnen weniger Minuten sterben. Die todmüden, völlig überlasteten Ärzte würden davon ausgehen, dass sein Herz versagt hatte. Niemand würde die Diagnose anzweifeln, niemand würde Fragen stellen. Macke wäre nur einer von Tausenden, die bei einem schweren Bombenangriff ums Leben gekommen waren. Ruhe in Frieden.
Carla wusste, dass Werner befürchtete, Macke könne ihm auf der Spur sein. Werner drohte jeden Tag die Verhaftung. Und dann … Jeder redet unter der Folter. Werner könnte Frieda verraten, Heinrich und andere. Auch sie, Carla.
Sie könnte alle retten.
Es war ganz einfach.
Aber sie zögerte.
Carla fragte sich, warum. Macke war ein Folterknecht und Mörder. Er hatte tausend Tode verdient. Außerdem hatte sie schon einen Menschen umgebracht oder zumindest dabei geholfen: Leutnant Joachim Koch. Aber das war Notwehr gewesen, denn Koch hatte ihre Mutter zu Tode treten wollen. Das hier war etwas ganz anderes.
Macke war ein Verwundeter, ein Patient.
Carla war nicht besonders religiös, aber bestimmte Dinge waren ihr heilig. Sie war Krankenschwester, und die Patienten schenkten ihr Vertrauen. Sie wusste, dass Macke ohne Zögern weiter foltern und morden würde, aber sie war nicht wie er. Das hatte nichts mit ihm zu tun, sondern mit ihr.
Wenn sie einen Patienten tötete, würde sie ihren Beruf aufgeben müssen; sie könnte
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