Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
sich nie wieder um kranke Menschen kümmern. Sie wäre wie ein Politiker, der Bestechungsgelder kassierte, oder wie ein Priester, der kleine Mädchen im Kommunionsunterricht betatschte. Sie würde sich selbst verraten und alles, woran sie glaubte.
»Worauf wartest du?«, fragte Frieda. »Ich kann ihn erst einschmieren, wenn er ruhig ist.«
Carla stach die Nadel in Mackes Oberschenkel, und seine Schreie verstummten. Frieda verteilte Salbe auf seiner verbrannten Haut.
»Der hier hat nur eine Gehirnerschütterung«, sagte Dr. Ernst mit Blick auf einen anderen Verwundeten. »Aber er hat eine Kugel in der Seite.« Er hob die Stimme, um sich mit dem benommenen Mann zu verständigen. »Wer hat auf Sie geschossen? Kugeln sind so ziemlich das Einzige, was die RAF heute Nacht nicht abgeworfen hat.«
Carla drehte sich zu dem Verwundeten um. Er lag auf dem Bauch. Man hatte ihm die Hose weggeschnitten, und sein bloßer Rücken lag frei. Er hatte helle Haut und feines, blondes Haar im Nacken. Er war benommen, doch er murmelte irgendetwas.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte Dr. Ernst. »Aus einer Polizeiwaffe hat sich versehentlich ein Schuss gelöst?«
Der Verwundete antwortete, diesmal ein wenig deutlicher: »Ja.«
»Ich hole jetzt die Kugel raus. Das wird wehtun, aber uns geht das Morphium aus, und wir haben hier schlimmere Fälle als Sie.«
»Machen Sie schon …«
Carla säuberte die Wunde. Dr. Ernst nahm eine Zange vom Tablett. »Beißen Sie ins Kissen«, sagte er.
Er schob die Zange in die Wunde. Der Patient stieß einen gedämpften Schrei aus.
Dr. Ernst sagte: »Sie dürfen sich nicht verspannen, das macht es nur noch schlimmer.«
Was für ein dummer Spruch, dachte Carla. Niemand konnte sich entspannen, wenn ein anderer in seinem Fleisch herumstocherte.
Der Verwundete schrie jetzt vor Schmerz.
»Ich hab sie«, verkündete Dr. Ernst. »Versuchen Sie, ruhig zu bleiben.«
Der Mann rührte sich nicht. Dr. Ernst zog die Kugel heraus und warf sie in eine Schale.
Carla wischte dem Mann das Blut von der Wunde und klebte eine Mullbinde darauf.
Der Verwundete drehte sich langsam herum.
»Nein«, sagte Carla, »Sie müssen …«
Sie hielt inne. Der Verwundete war Werner.
»Carla?«, sagte er.
»Ja, ich bin’s!« In diesem Moment hätte sie die ganze Welt umarmen können. »Ich habe dir gerade ein Pflaster auf den Hintern geklebt.«
»Ich liebe dich«, sagte er.
Gänzlich unprofessionell schlang Carla die Arme um ihn. »Ich liebe dich auch.«
Thomas Macke kam zu sich. Anfangs war er noch benommen. Dann wurde er sich langsam seiner Umgebung bewusst und erkannte, dass er in einem Krankenhaus lag und unter Medikamenteneinfluss stand. Er wusste warum. Seine Haut tat furchtbar weh, besonders auf der rechten Seite. Er spürte noch genug, um zu merken, dass die Medikamente den Schmerz zwar linderten, aber nicht gänzlich beseitigten.
Nach und nach erinnerte er sich auch, wie er hierhergekommen war. Eine Bombe war ins Dach der Schule eingeschlagen, als er Werner Franck verfolgt hatte. Die Männer, die hinter ihm gewesen waren, lebten mit Sicherheit nicht mehr: Schneider, Richter, Mann und der junge Wagner. Sein gesamter Trupp.
Aber er hatte Franck erwischt.
Oder? Jedenfalls hatte er den Dreckskerl mit einer Kugel erwischt, und er war zu Boden gestürzt. Dann war die Bombe in die Schule eingeschlagen, und von diesem Moment an fehlte Macke jede Erinnerung. Konnte es sein, dass Franck davongekommen war? Er selbst hatte ja auch überlebt.
Macke war jetzt der einzige lebende Mensch, der wusste, dass Franck ein Spion war. Er musste mit seinem Chef reden, Kriminaldirektor Kringelein, musste ihn warnen …
Macke wollte sich aufsetzen, doch ihm fehlte die Kraft. Er versuchte, eine Krankenschwester zu rufen, brachte aber keinen Laut hervor. Die Anstrengung erschöpfte ihn, und er schlief wieder ein.
Als er das nächste Mal erwachte, war es Nacht geworden. Es war vollkommen still auf der Station. Macke schlug die Augen auf und sah ein Gesicht über sich.
Es war Werner Franck.
»Sie werden sich jetzt von hier verabschieden«, sagte er.
Macke versuchte, um Hilfe zu rufen, brachte aber nur ein Krächzen zustande.
»Sie gehen jetzt an einen anderen Ort«, fuhr Franck flüsternd fort. »An einen Ort, wo Sie nicht mehr foltern werden, sondern wo man Sie foltert.«
Macke öffnete den Mund, um zu schreien.
Ein Kissen senkte sich auf sein Gesicht, wurde ihm auf Mund und Nase gepresst. Macke bekam keine Luft mehr. Er versuchte,
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