Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Feuer.
Die MG -Stellung schien am Rand des Dschungels zu liegen, ungefähr vierhundert Yards den Strand entlang. Hatte das Maschinengewehr die ganze Zeit dort gelegen, sodass der Schütze auf den günstigsten Moment gewartet hatte? Oder hatte es die Stellung gerade erst bezogen?
Chuck und Eddie zogen die Köpfe ein und rannten zur Baumgrenze.
Ein Seemann mit einer Munitionskiste auf der Schulter stieß einen Schmerzensschrei aus und stürzte. Die Kiste fiel zu Boden.
Dann brüllte Eddie auf.
Chuck rannte noch zwei, drei Schritte, ehe er stehen blieb. Als er sich umdrehte, wälzte Eddie sich im Sand, hielt sich das Knie und schrie: »Oh, Scheiße!«
Chuck eilte zu ihm zurück und kniete sich neben ihn. »Schon okay, ich bin bei dir!«, rief er. Eddie hatte die Augen geschlossen, aber er lebte, und Chuck sah keine anderen Wunden als die am Knie.
Dann hob er den Blick. Das Landungsboot, das sie auf die Insel gebracht hatte, war noch immer am Strand und wurde entladen. Er konnte Eddie binnen weniger Minuten zurück zum Schiff bringen. Aber das MG feuerte noch immer.
Er kauerte sich tief neben Eddie in den Sand. »Das tut jetzt weh«, sagte er. »Brüll, soviel du willst.«
Er schlang den rechten Arm unter Eddies Achsel, den linken unter die Beine, wuchtete ihn hoch und richtete sich auf. Eddie schrie vor Schmerz, als sein getroffenes Bein frei in der Luft schwang. »Beiß die Zähne zusammen, Kamerad«, sagte Chuck und drehte sich zum Strand um.
In diesem Moment spürte er einen unerträglich scharfenSchmerz in den Beinen und im Rücken, der bis in den Kopf hineinschoss. Er konnte nur noch daran denken, dass er Eddie nicht fallen lassen durfte. Im nächsten Augenblick wusste er, dass er ihn nicht mehr halten konnte. Hinter seinen Augen loderte ein greller Blitz auf und blendete ihn.
Dann endete die Welt.
An ihrem freien Tag arbeitete Carla im Jüdischen Krankenhaus.
Dr. Rothmann hatte sie dazu überredet. Er war aus dem Lager entlassen worden. Niemand wusste warum, außer den Nazis, doch die verrieten es niemandem. Dr. Rothmann hatte ein Auge verloren und humpelte, aber er lebte und konnte weiter praktizieren.
Das Jüdische Krankenhaus lag im Norden Berlins, in Wedding, einem Arbeiterbezirk, doch die Architektur der Gebäude war keineswegs schmucklos oder gar trist. Der Komplex war noch vor dem Großen Krieg erbaut worden, als die Berliner Juden stolz und wohlhabend gewesen waren. Die Anlage bestand aus insgesamt sieben eleganten Gebäuden in einem großen Park. Die verschiedenen Abteilungen waren durch Tunnel miteinander verbunden, sodass Patienten und Mitarbeiter von einem Gebäude zum anderen gelangen konnten, ohne sich dem Wetter aussetzen zu müssen.
Es war ein Wunder, dass es noch immer ein jüdisches Krankenhaus gab. Nur noch wenige Juden lebten in Berlin. Sie waren zu Tausenden zusammengetrieben und in Sonderzüge gepfercht worden. Und niemand wusste, wohin man sie gebracht hatte oder was mit ihnen geschehen war. Allerdings kursierten unglaubliche Gerüchte über Vernichtungslager.
Die wenigen Juden, die sich noch in Berlin aufhielten, durften im Krankheitsfall nicht von arischen Ärzten und Schwestern behandelt werden. Eben deshalb durfte das Jüdische Krankenhaus dank der verdrehten Logik der Nazis weiterbestehen. Das Personal bestand vorwiegend aus Juden und anderen Unglücklichen, die nicht als »rassisch rein« galten: Slawen aus Osteuropa, Mischlinge und Deutsche, die mit Juden verheiratet waren. Doch es gab nicht genügend Krankenschwestern; deshalb half Carla aus.
Es mangelte an allem – an Medikamenten, Personal und Geld.Außerdem wurde das Krankenhaus ständig von der Gestapo heimgesucht. Dennoch verstieß Carla immer wieder gegen das Gesetz. Was blieb ihr auch anderes übrig, wenn sie helfen wollte? Um sich strafbar zu machen, genügte es ja schon, die Temperatur bei einem elfjährigen jüdischen Jungen zu messen, dessen Fuß bei einem Bombenangriff zerquetscht worden war. Außerdem schmuggelte sie jeden Tag Medikamente hierher. Doch sie wollte beweisen – und sei es nur sich selbst –, dass sich nicht jeder den Nazis unterworfen hatte.
Als sie mit ihrer Stationsrunde fertig war, sah sie Werner vor der Tür stehen. Er trug seine Luftwaffenuniform.
Mehrere Tage lang hatten er und Carla in Angst gelebt und sich gefragt, ob jemand den Bombenangriff auf die Schule überlebt hatte und Werner anzeigen konnte, doch inzwischen war offensichtlich, dass Mackes Leute ums Leben gekommen
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