Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
waren. Es gab niemanden mehr, der von Mackes Verdacht wusste. Sie hatten wieder einmal Glück gehabt, zumal Werner sich rasch von der Schussverletzung erholt hatte.
Er und Carla waren inzwischen ein Paar. Werner war in das große, halbleere Haus der von Ulrichs gezogen und hatte jede Nacht mit Carla geschlafen. Natürlich wusste Carlas Mutter davon, aber sie sagte nichts. Wieso auch? Schon seit Langem waren die Berliner mit dem Tod auf Du und Du. Warum sollte man da nicht alles aus dem Leben herausholen? Jede noch so kleine Freude, die einem inmitten des Leids noch blieb …
Doch heute sah Werner ernster aus als sonst, als Carla ihn durch die Glastür in die Station ließ.
»Was ist?«, fragte sie besorgt.
»Schlechte Neuigkeiten. Ich bin an die Ostfront abkommandiert worden.«
»Nein!« Carla schlug die Hand vor den Mund. Tränen schimmerten in ihren Augen.
»Nicht weinen.« Werner schloss sie in die Arme. »Früher oder später musste es so kommen. Es ist ein Wunder, dass es mir so lange erspart geblieben ist. Aber jetzt kann General Dorn mich nicht mehr hierbehalten. Unsere Armee besteht mittlerweile zur Hälfte aus alten Männern und Schuljungen, und ich bin ein vierundzwanzig Jahre alter Offizier.«
»Bitte, du darfst nicht sterben …«, sagte Carla.
Werner lächelte. »Ich werde mein Bestes tun.«
Carla senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Und was wird aus dem Netz? Du bist der Einzige, der alles weiß. Wer soll die Führung übernehmen, wenn du fort bist?«
Werner blickte sie stumm an, und Carla wusste, worauf er hinauswollte.
»Das kann ich nicht«, sagte sie und löste sich aus seiner Umarmung.
»Niemand kann es besser als du. Frieda ist keine geborene Führungsperson. Du hast bereits bewiesen, dass du Leute rekrutieren und motivieren kannst. Außerdem hattest du nie Ärger mit der Polizei und hast keine politische Akte. Niemand weiß, welche Rolle du beim Widerstand gegen die Aktion T4 gespielt hast. Für die Behörden bist du eine ganz normale Krankenschwester.«
»Aber ich habe Angst, Werner!«
»Du musst es nicht tun, Carla. Aber außer dir kann es niemand.«
Plötzlich entbrannte irgendwo in der Nähe eine lautstarke Auseinandersetzung. In der Nachbarstation waren psychisch Kranke untergebracht, sodass öfters Geschrei und Lärm zu hören waren, aber diesmal war es anders. Eine kultivierte Stimme war vor Wut erhoben. Eine andere, jüngere Stimme antwortete, schroff und derb, mit Berliner Akzent.
Carla und Werner traten in den Flur.
Dr. Rothmann, der einen gelben Stern auf dem Jackett trug, stritt mit einem Mann in SS -Uniform. Hinter ihnen standen die Türen zur Psychiatrie weit offen, obwohl sie normalerweise verschlossen waren. Zwei Polizisten und mehrere Krankenschwestern trieben Männer und Frauen hinaus, die meisten in Schlafanzügen. Einige gingen aufrecht und wirkten normal, während andere schlurften und vor sich hin murmelten, als sie die Treppe hinunter und nach draußen geführt wurden.
Carla fühlte sich sofort an Kurt, Adas Sohn, und Werners Bruder Axel erinnern – und an das sogenannte »Krankenhaus« in Akelberg. Sie wusste nicht, wohin die Patienten gebracht wurden, aber sie war sicher, dass am Ende ihres Weges der Tod auf sie wartete.
Dr. Rothmann rief empört: »Diese Menschen sind krank! Sie müssen behandelt werden!«
»Sie sind nicht krank«, schnarrte der SS -Offizier. »Sie sind verrückt. Und wir bringen sie dahin, wo Verrückte hingehören.«
»In ein Krankenhaus?«
»Man wird Sie zu gegebener Zeit darüber informieren.«
»Das reicht mir nicht.«
Carla wusste, dass sie sich nicht einmischen sollte. Wenn man herausfand, dass sie keine Jüdin war, steckte sie in argen Schwierigkeiten. Mit ihrem dunklen Haar, dem dunklen Teint und den grünen Augen sah sie nicht allzu arisch aus; wenn sie den Mund hielt, würde niemand sie behelligen. Doch sollte sie gegen die Maßnahme der SS protestieren, würde man sie zum Verhör schleifen, und dann kam heraus, dass sie hier illegal aushalf. Also biss sie die Zähne zusammen.
Der Offizier hob die Stimme, als er seinen Leuten befahl: »Beeilung! Schafft die Irren in den Bus!«
Dr. Rothmann blieb hartnäckig. »Ich muss wissen, wohin man sie bringt. Diese Leute sind meine Patienten.«
Das war gelogen. Dr. Rothmann war kein Psychiater. Dennoch kämpfte er um das Leben dieser Menschen.
Der SS -Mann erwiderte: »Wenn Sie sich so große Sorgen um diese Verrückten machen, können Sie ja mitfahren.«
Dr. Rothmann
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