Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
wurde bleich. Das würde mit ziemlicher Sicherheit seinen Tod bedeuten.
Carla dachte an Dr. Rothmanns Frau Hannelore, an seinen Sohn Rudi und an Eva, seine Tochter in England. Ihr wurde schlecht vor Angst.
Der SS -Offizier grinste. »Ihre Sorgen waren wohl doch nicht so groß, was?«
Dr. Rothmann straffte die Schultern. »Sie irren sich. Ich nehme Ihr Angebot an. Vor vielen Jahren habe ich den Eid geschworen, alles zu tun, um kranken Menschen zu helfen. Ich werde diesen Eid jetzt nicht brechen. Ich will reinen Gewissens sterben.« Humpelnd folgte er den Patienten die Treppe hinunter.
Eine alte Frau ging an Carla und Werner vorbei. Sie trug nur einen Bademantel, der vorne offen stand und ihre Nacktheit zur Schau stellte.
Carla konnte nicht mehr an sich halten. »Es ist November!«, schrie sie. »Und diese Menschen haben keine Straßenkleidung!«
Der SS -Offizier musterte sie scharf. »Im Bus frieren die schon nicht, keine Bange.«
»Ich hole warme Kleidung.« Carla drehte sich zu Werner um. »Komm, hilf mir. Schnapp dir ein paar Decken.«
Carla und Werner eilten durch die Psychiatrie, in der sich kaum noch Patienten befanden, rissen Decken und Laken von den leeren Betten und rannten damit die Treppe hinunter.
Im Krankenhausgarten war der Boden hart gefroren. Vor dem Haupteingang stand ein grauer Bus. Der Motor lief, und der Fahrer saß rauchend am Lenkrad. Carla sah, dass er einen dicken Mantel trug, dazu Hut und Handschuhe. Wie es aussah, war der Bus nicht beheizt.
Eine kleine Gruppe von Gestapo- und SS -Männern schaute sich das Ganze an.
Die letzten Patienten stiegen in den Bus. Carla und Werner folgten ihnen und verteilten die Decken und Laken.
Dr. Rothmann stand ganz hinten. »Carla«, sagte er mit schwankender Stimme. »Bitte erzähl meiner Hannelore, wie es gewesen ist. Ich muss bei diesen Menschen bleiben. Ich habe keine andere Wahl.«
»Natürlich.« Carla blieben die Worte im Halse stecken.
»Vielleicht kann ich sie ja irgendwie beschützen …«
Carla nickte, obwohl sie keine Sekunde daran glaubte.
»Auf jeden Fall darf ich sie nicht im Stich lassen.«
»Ich sage es Ihrer Frau.«
»Sag ihr auch, dass ich sie liebe.«
Carla konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Sag ihr, dass ich das als Letztes gesagt habe, ja? Dass ich sie über alles liebe. Versprichst du es mir?«
Carla nickte.
Werner nahm sie am Arm. »Lass uns gehen.«
Sie stiegen aus.
Ein SS -Mann rief Werner zu: »He, Sie da! Ja, Sie in der Luftwaffenuniform! Was machen Sie da?«
Werner war so wütend, dass Carla befürchtete, er würde eine Schlägerei vom Zaun brechen. Doch er antwortete ruhig: »Ich verteile Decken an alte Menschen, denen kalt ist. Verstößt das jetzt auch schon gegen das Gesetz?«
»Einer wie Sie sollte an der Ostfront kämpfen!«
»Da fahre ich morgen hin. Was ist mit Ihnen?«
»Passen Sie auf, was Sie sagen.«
»Wenn Sie so freundlich wären, mich zu verhaften, bevor ich fahre, würden Sie mir vermutlich das Leben retten.«
Der SS -Mann wandte sich ab.
Der Busfahrer legte krachend den Gang ein, und der Motor heulte auf. Carla und Werner schauten zu. An jedem Fenster war das Gesicht eines Patienten zu sehen: Der eine sabberte, der andere plapperte vor sich hin; wieder andere blickten mit leeren Augen ins Nichts. Manche waren voller Trauer, andere voller kindlicher Freude. Manche lachten vergnügt, andere weinten herzzerreißend.
Patienten aus der Psychiatrie, die von der SS abtransportiert wurden. Die Irren brachten die Verrückten weg.
Der Bus fuhr los.
»Ich hätte Russland vielleicht ganz schön gefunden, hätte ich mir das Land anschauen dürfen«, sagte Woody zu seinem Vater.
»Geht mir genauso.«
»Ich habe nicht mal vernünftige Fotos.«
Sie saßen in der großen Lobby des Hotels Moskwa, nicht weit vom Eingang zur U-Bahn-Station entfernt. Ihre Koffer waren gepackt; sie waren auf dem Weg nach Hause.
»Ich muss Greg Peshkov unbedingt erzählen, dass ich einen Wolodja Peschkow getroffen habe«, sagte Woody. »Allerdings war Wolodja nicht gerade erfreut über die Namensgleichheit. Ich nehme an, dass hier jeder, der Verbindungen in den Westen hat, schnell unter Verdacht gerät.«
»Da kannst du deine dicken Socken drauf verwetten«, sagte Gus.
»Wie auch immer – wir haben, weshalb wir gekommen sind, und das ist die Hauptsache. Die Alliierten sind sich einig, was die Vereinten Nationen angeht.«
»Ja.« Gus nickte zufrieden. »Dem guten alten Stalin musste zwar gut zugeredet
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