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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sich diese Mühe machten. Der größte Teil Berlins war ohnehin zerstört. Ganze Stadtviertel waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Versorgung war auf allen Ebenen unterbrochen. Es fuhren keine Busse oder Bahnen mehr, und Hunderttausende, wenn nicht Millionen waren ohne ein Dach über dem Kopf, denn Berlin hatte sich in ein einziges riesiges Flüchtlingslager verwandelt.
    Dennoch hielt der Beschuss an. Die meisten Menschen verbrachten die Tage in Kellern oder öffentlichen Luftschutzbunkern, aber wenn sie Wasser brauchten, mussten sie ins Freie.
    Kurz bevor auch der Strom ausgefallen war, hatte die BBC im Radio verkündet, das Konzentrationslager Sachsenhausen sei von der Roten Armee befreit worden. Sachsenhausen lag nördlich von Berlin; also hatten die aus dem Osten heranrückenden Sowjets die Absicht, die Stadt einzuschließen, anstatt direkt einzumarschieren. Carlas Mutter schloss daraus, dass die Russen versuchten, die Amerikaner, Briten, Franzosen und Kanadier draußenzuhalten, die von Westen her rasch näher rückten. Sie zitierte Lenin: »Wer Berlin beherrscht, der beherrscht Deutschland, und wer Deutschland beherrscht, der beherrscht Europa.«
    Doch die Wehrmacht hatte noch nicht aufgegeben. Kaum noch mit Waffen, Munition und Treibstoff ausgerüstet, in Unterzahl und halb verhungert, hielten die Soldaten weiter stand. Immer wieder warfen ihre Offiziere sie dem hoffnungslos überlegenen Feind entgegen; immer wieder befolgten sie die aberwitzigen Befehle, kämpften mit verzweifeltem Mut und starben sinnlos zu Tausenden.
    Unter diesen Soldaten waren zwei Männer, die Carla liebte: ihr Bruder Erik und ihr Freund Werner. Sie hatte keine Ahnung, wo die beiden kämpften und ob sie überhaupt noch lebten.
    Carla hatte das Spionagenetz aufgelöst. Die Kämpfe gerieten immer mehr zum Chaos; deshalb gab es keinen Bedarf an Schlachtplänen mehr. Nachrichtendienstliche Informationen aus Berlin waren für die Sowjets bedeutungslos geworden. Es war das Risiko nicht mehr wert. Die Spione hatten ihre Codebücher verbrannt, ihre Funksender in den Trümmern ausgebombter Gebäude versteckt und waren übereingekommen, nie mehr über ihre Arbeit zu sprechen. Sie alle hatten ihren Beitrag geleistet, den Krieg zuverkürzen, und hatten dadurch viele Leben gerettet. Doch es wäre wohl zu viel verlangt, dass die von Hunger und Leid geplagte deutsche Bevölkerung es genauso sah. Der Mut und die Opferbereitschaft der Frauen und Männer des Spionagenetzwerks würden für immer im Verborgenen bleiben.
    Während Carla an der Pumpe stand und darauf wartete, an die Reihe zu kommen, kam ein Panzerabwehrtrupp der Hitler-Jugend vorbei. Sie fuhren auf Fahrrädern nach Osten, wo die Kämpfe tobten. Zwei Männer in den Fünfzigern führten ein Dutzend Jungen an, von denen sich jeder eine Panzerfaust an den Lenker gebunden hatte. Die Uniformen waren den Jungen viel zu groß, und die übergroßen Stahlhelme hätten komisch ausgesehen, wäre das Ganze nicht so erbärmlich gewesen. Diese Jungen waren unterwegs, um gegen die Rote Armee zu kämpfen.
    Sie würden sterben.
    Carla wandte sich ab, als die Jungen an ihr vorbeifuhren. Sie wollte sich nicht an ihre Gesichter erinnern.
    Als Carla ihren Eimer füllte, flüsterte Frau Reichs, die hinter ihr in der Schlange stand: »Sie sind doch die Freundin der Frau vom Doktor, nicht wahr?«
    Carla verspannte sich unwillkürlich. Frau Reichs sprach offensichtlich von Hannelore Rothmann. Es war nun schon lange her, dass Dr. Rothmann zusammen mit den Patienten aus der Psychiatrie des Jüdischen Krankenhauses verschwunden war. Rudi, der Sohn der Rothmanns, hatte sich den gelben Stern abgerissen und sich den Juden angeschlossen, die im Untergrund lebten und im Berliner Volksmund »U-Boote« genannt wurden. Doch Hannelore, die ja keine Jüdin war, wohnte noch in ihrem alten Haus.
    Zwölf Jahre lang war eine solche Frage – »Sind Sie die Freundin der Frau eines Juden?« – praktisch eine Anklage gewesen. Aber galt das immer noch? Carla wusste es nicht. Doch Frau Reichs war nur eine flüchtige Bekannte, sodass sie ihr nicht vertrauen durfte.
    Sie drehte den Hahn zu. »In meiner Kindheit war Dr. Rothmann unser Hausarzt«, antwortete sie vorsichtig. »Warum?«
    Frau Reichs trat an die Pumpe und machte sich daran, einen großen ausrangierten Ölkanister mit Wasser zu füllen. »Frau Rothmann wurde abgeholt«, sagte sie leise. »Ich dachte, das würde Sie interessieren.«
    So etwas war trauriger Alltag in Berlin.

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