Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.«
»Wer soll ihn denn anklagen, wenn wir alle tot sind?«, entgegnete Gisela.
»Ich«, sagte Carla.
Die beiden Frauen starrten sie an. Sie sagten kein Wort. In diesem Augenblick wusste Carla, dass man auch sie erschießen würde, Arierin hin oder her. Die Nazis konnten keine Zeugen brauchen.
Fieberhaft suchte Carla nach einem Ausweg. »Bestimmt würde es Dobberke helfen, wenn er uns verschont, und die Alliierten würden davon erfahren«, sagte sie schließlich.
»Das wäre möglich«, meinte Hannelore. »Wir alle könnten eine Erklärung unterschreiben, dass er uns das Leben gerettet hat.«
Carla blickte fragend zu Gisela. Deren Miene war skeptisch; dennoch sagte sie: »Ja, das könnte klappen.«
Hannelore schaute sich um. »Da ist Hilde, Dobberkes Sekretärin.« Sie rief die Frau herüber und erklärte ihr den Plan.
»In Ordnung«, sagte Hilde. »Ich werde für jeden Entlassungspapiere ausstellen. Dann bitten wir Dobberke, sie zu unterschreiben, bevor wir ihm die Erklärung geben.«
Es gab keine Wachen im Keller, nur im Erdgeschoss und im Tunnel, sodass die Gefangenen sich frei bewegen konnten. In dem Raum, der Dobberke als Büro diente, tippte Hilde die Erklärung. Anschließend gingen Hannelore und Carla mit dem Schreiben durch den Keller, erläuterten den Gefangenen ihren Plan undließen sie unterschreiben. In der Zwischenzeit tippte Hilde die Entlassungspapiere.
Es war tief in der Nacht, als die Frauen alles vorbereitet hatten. Mehr konnten sie nicht tun, bevor Dobberke am Morgen zurückkam.
Carla lag auf dem Boden neben Rebecca Rosen. Einen anderen Schlafplatz gab es nicht.
Nach einer Weile hörte sie Rebecca leise weinen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte das Mädchen trösten, doch ihr fielen keine passenden Worte ein. Was sollte man einem Kind sagen, dessen Eltern von einer Granate zerfetzt worden waren?
Das leise Weinen hielt an. Schließlich drehte Carla sich um und legte den Arm um das Mädchen. Sofort erkannte sie, dass sie das Richtige getan hatte, denn Rebecca schmiegte sich an sie. Carla tätschelte ihr den Rücken wie einem kleinen Kind. Langsam verebbte das Schluchzen, und das Mädchen schlief ein.
Carla jedoch lag wach. Die ganze Nacht dachte sie darüber nach, was sie Dobberke sagen sollte. Sollte sie an sein Gewissen appellieren? Sollte sie ihm damit drohen, dass die Alliierten ihn zur Rechenschaft ziehen würden?
Dann wieder dachte sie daran, dass die Gefahr, erschossen zu werden, noch nicht gebannt war. Sie musste daran denken, was Erik ihr über die Erschießungen in Russland erzählt hatte. Carla nahm an, dass die Nazis hier ein ähnlich effektives Tötungssystem hatten. Wie mochte es sein, vor einem Erschießungskommando zu stehen? Es fiel Carla schwer, es sich vorzustellen, und sie wollte auch gar nicht daran denken.
Doch wenn sie das Lager jetzt oder gleich morgen früh verließ, käme sie wahrscheinlich ungeschoren davon. Schließlich war sie keine Gefangene und keine Jüdin, und ihre Papiere waren in Ordnung. Sie könnte auf demselben Weg hinausgehen, auf dem sie gekommen war. Das aber hätte bedeutet, dass sie Hannelore und Rebecca im Stich lassen musste, und das brachte sie nicht über sich.
Die Gefechte in den Straßen hielten bis in die frühen Morgenstunden an; dann kehrte für kurze Zeit Stille ein. Bei Sonnenaufgang flammten die Kämpfe wieder auf. Sie tobten nun so nah, dass Carla nicht nur die Artillerie, sondern auch die Maschinengewehre hören konnte.
Früh am Morgen brachten die Wachen einen großen Topf mit einer wässrigen Suppe und einen Sack mit altem Brot. Carla aß ein paar Bissen; dann ging sie widerwillig auf die dreckstarrende Toilette.
Anschließend ging sie mit Hannelore, Gisela und Hilde hinauf ins Erdgeschoss, um dort auf Walter Dobberke zu warten. Das Artilleriefeuer hatte wieder eingesetzt, und die drei Frauen schwebten in ständiger Gefahr, doch sie wollten Dobberke abfangen, sobald er erschien.
Aber er kam nicht. Dabei war er sonst pünktlich, sagte Hilde. Vielleicht war er durch die Kämpfe aufgehalten worden. Carla hoffte nur, dass er nicht getötet worden war. Sein Stellvertreter, Unterscharführer Ehrenstein, war zu dumm und primitiv, als dass man mit ihm hätte reden können.
Als Dobberke eine Stunde überfällig war, verlor Carla allmählich die Hoffnung.
Wieder eine Stunde später kam er doch noch.
»Was ist das denn?«, fragte er, als er die vier Frauen im Flur sah.
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