Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
drein. Die arrangierten Kompromisse in Bezug auf Weißrussland, die Ukraine und Argentinien hätten eigentlich für einen glatten Ablauf dieser Sitzung sorgen sollen. Doch jetzt hatte Molotow ihnen einen Tiefschlag versetzt.
Senator Vandenberg, der bei der amerikanischen Delegationsaß, zückte empört einen Füllhalter und einen Notizblock und begann zu schreiben. Als er fertig war, riss er das Blatt ab, winkte Woody heran, reichte ihm den Zettel und sagte: »Bringen Sie das dem Außenminister.«
Woody ging an den Tisch, beugte sich über Stettinius’ Schulter und legte ihm das Blatt hin. »Von Senator Vandenberg, Sir.«
»Danke.«
Woody kehrte zu seinem Platz an der Wand zurück. Mein Auftritt in der Weltgeschichte, dachte er. Er hatte einen Blick auf die Nachricht werfen können, als er sie an Stettinius übergeben hatte: Vandenberg hatte eine kurze, leidenschaftliche Rede skizziert, mit der der tschechoslowakische Antrag abgelehnt werden sollte. Würde Stettinius sich der Ansicht des Senators anschließen?
Wenn Molotow hinsichtlich Polens seinen Willen durchsetzte, sabotierte Vandenberg möglicherweise die Vereinten Nationen im Senat, was den Todesstoß für sie bedeutet hätte. Schwenkte Stettinius auf Vandenbergs Linie ein, flog Molotow vielleicht nach Hause – mit den gleichen verheerenden Folgen für die UN .
Woody hielt den Atem an.
Stettinius erhob sich, Vandenbergs Notiz in der Hand. »Wir haben unsere in Jalta getroffenen Vereinbarungen Russland gegenüber eingehalten«, sagte er. Damit bezog er sich auf die Verpflichtung der USA , die Aufnahme Weißrusslands und der Ukraine zu unterstützen. »In Jalta sind weitere Vereinbarungen getroffen worden, die ebenfalls eingehalten werden müssen.« Er benutzte den Wortlaut, den Vandenberg ihm vorgegeben hatte. »Eine davon betrifft eine neue und repräsentative provisorische Regierung für Polen.«
Im Saal erhob sich schockiertes Gemurmel. Stettinius stellte sich Molotow in den Weg! Woody blickte zu Vandenberg hinüber. Der Senator schnurrte geradezu vor Zufriedenheit.
»Ehe das geschieht«, fuhr Stettinius fort, »kann die Konferenz die Lubliner Regierung nicht guten Gewissens anerkennen.« Er blickte Molotow fest an und zitierte Vandenbergs exakten Wortlaut. »Es wäre ein erbärmliches Beispiel von Wortbruch.«
Molotows Gesicht glühte vor Zorn.
Der britische Außenminister, der hoch aufgeschossene, schlaksige Anthony Eden, erhob sich zur Unterstützung Stettinius’. Ersprach mit perfekter Höflichkeit, doch seine Worte waren vernichtend. »Meine Regierung hat keine Möglichkeit festzustellen, ob das polnische Volk hinter seiner provisorischen Regierung steht«, sagte er, »da unsere sowjetischen Verbündeten sich weigern, britische Beobachter nach Polen zu lassen.«
Woody spürte, wie die Versammlung sich gegen Molotow wandte. Der Russe hatte offensichtlich den gleichen Eindruck. Er besprach sich so laut mit seinen Assistenten, dass Woody den Zorn in seiner Stimme hören konnte. Würde er die Versammlung jetzt verlassen?
Der belgische Außenminister, kahlköpfig, plump und mit Doppelkinn, schlug einen Kompromiss vor, einen Antrag, der die Hoffnung ausdrückte, die neue polnische Regierung könne rechtzeitig organisiert werden, um in San Francisco vertreten zu sein, ehe die Konferenz zu Ende ging.
Alle Blicke ruhten auf Molotow. Ihm wurde die Möglichkeit angeboten, das Gesicht zu waren. Würde er sie nutzen?
Er sah noch immer wütend aus. Dennoch rang er sich zu einem leichten, aber unmissverständlichen Nicken der Zustimmung durch.
Die Krise war vorüber.
Zwei Siege an einem Tag, dachte Woody. Es wird immer besser.
Carla ging auf die Straße, um sich für Wasser anzustellen.
Seit zwei Tagen gab es in der Reichshauptstadt kein fließendes Wasser mehr. Zum Glück hatten die Berliner Hausfrauen entdeckt, dass es alle paar Häuserblocks alte Straßenpumpen gab, die mit unterirdischen Brunnen verbunden waren, auch wenn sie seit Langem nicht mehr benutzt wurden. Die Pumpen waren eingerostet und knarrten, funktionierten erstaunlicherweise aber noch. Also zogen die Frauen nun jeden Morgen mit Eimern, Kanistern und Krügen los, um sich Wasser zu besorgen.
Die Luftangriffe hatten aufgehört – wahrscheinlich, weil der Feind in Kürze in Berlin einrücken würde. Aber es war noch immer gefährlich auf den Straßen, denn die Rote Armee deckte die Stadt mittlerweile mit Artilleriebeschuss ein. Carla konnte nicht verstehen, weshalb die Russen
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