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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Ständig wurden Leute »abgeholt«. Doch wenn es jemanden traf, der einem nahestand, war es wie ein Stich ins Herz. Was mit den Leuten geschah, war kaum herauszufinden. Und dahingehende Fragen zu stellen war lebensgefährlich: Menschen, die sich nach dem Verschwinden anderer erkundigten, verschwanden oft selbst.
    Dennoch fragte Carla: »Wissen Sie, wohin man sie gebracht hat?«
    Wider Erwarten bekam sie eine Antwort. »Ins Übergangslager in der Schulstraße.« Carlas Hoffnung kehrte zurück. »Das ist in dem alten Jüdischen Krankenhaus in Wedding. Kennen Sie das?«
    »Ja.« Noch immer half Carla verbotenerweise in diesem Krankenhaus aus; deshalb wusste sie, dass die Regierung eines der Gebäude, die Pathologie, übernommen und mit einem Stacheldrahtzaun abgeriegelt hatte.
    »Ich hoffe, es geht ihr gut«, bemerkte Frau Reichs. »Sie war nett zu mir, als meine Steffi krank war.« Sie drehte den Hahn zu und schlurfte mit dem Kanister davon.
    Carla ging in die entgegengesetzte Richtung nach Hause, entschlossen, Hannelore Rothmann zu helfen. Bislang war es so gut wie unmöglich gewesen, jemanden aus einem Lager herauszuholen, aber jetzt, wo alles zusammenbrach, bestand vielleicht die Möglichkeit.
    Carla trug den Eimer ins Haus und gab ihn Ada. Maud war unterwegs, um für Nahrungsmittel anzustehen. Carla zog ihre Schwesternuniform an; vielleicht half es ihr ja. Dann sagte sie Ada, wohin sie wollte, und machte sich auf den Weg nach Wedding.
    Carla musste die vier Kilometer zu Fuß gehen. Unterwegs kamen ihr Zweifel, und sie fragte sich, ob es die Sache überhaupt wert war. Selbst wenn sie Hannelore Rothmann finden sollte, würde sie ihr vermutlich nicht helfen können. Dann aber dachte sie an Eva Rothmann in London und an Rudi in seinem Versteck irgendwo in Berlin, und wie schrecklich es für die beiden wäre, ihre Mutter in den letzten Stunden des Krieges zu verlieren.
    Nein, sie musste versuchen, Hannelore zu finden.
    Die gefürchtete Feldgendarmerie war unterwegs, hielt die Leute an und verlangte nach den Papieren. Sie waren stets zu dritt und bildeten ihr eigenes Standgericht, doch sie waren nur an kampffähigen Männern interessiert. Carla in ihrer Schwesternuniform ließen sie in Ruhe.
    Es wirkte irreal, in der Berliner Trümmerwüste weiß und rosa blühende Kirschbäume zu sehen; man konnte sogar die Vögel singen hören, wenn der Geschützdonner verstummte.
    Zu ihrem Entsetzen sah Carla mehrere Männer an Laternenpfählen hängen, einige davon in Uniform. Die meisten trugen Schilder um den Hals, auf denen Beschimpfungen wie »Feigling« oder »Deserteur« standen. Carla wusste, dass es Opfer der Drei-Mann-Standgerichte waren. Hatten die Nazis nicht schon genug Menschen umgebracht? Musste ihr Terror bis zur letzten Sekunde weitergehen?
    Unterwegs musste Carla dreimal wegen Artilleriebeschuss Deckung suchen. Beim dritten Mal, ein paar hundert Meter vor dem Krankenhaus, schienen die Deutschen und Sowjets nur wenige Straßen entfernt zu kämpfen. Das Feuergefecht war so heftig, dass Carla mit dem Gedanken spielte, aufzugeben und umzukehren. Wahrscheinlich war Hannelore Rothmann ohnehin nicht mehr zu helfen; vielleicht war sie schon tot. Warum sollte sie, Carla, dann auch noch sterben?
    Trotzdem ging sie weiter.
    Es war Abend, als sie ihr Ziel erreichte. Das Krankenhaus lag in der Persischen Straße, Ecke Schulstraße. Die Bäume am Straßenrand standen in voller Blüte. Das Laborgebäude, das zum Übergangslager umfunktioniert worden war, wurde bewacht. Carla spielte mit dem Gedanken, einfach zu dem Wachposten zu gehen und ihr Anliegen vorzubringen, aber das hätte nicht viel Sinn gehabt. Vielleicht bestand ja die Möglichkeit, durch das Tunnelsystem ins Innere zu gelangen.
    Sie ging zum Hauptgebäude. Das Krankenhaus war noch in Betrieb; allerdings hatte man sämtliche Patienten ins Kellergeschoss und in die Tunnel verlegt. Pflegepersonal und Ärzte arbeiteten im Licht von Öllampen, und Carla roch, dass die Toilettenspülungen nicht mehr funktionierten. Wasser wurde aus einem alten Brunnen im Garten geschöpft.
    Überraschenderweise brachten Wehrmachtssoldaten auch Verwundete hierher. Mit einem Mal schien es ihnen egal zu sein, dass die meisten Ärzte und Schwestern Juden waren.
    Carla ging durch einen Tunnel, der unter dem Garten des Gebäudes zum Keller des Labors führte. Wie erwartet war die Tür bewacht. Doch der junge Gestapo-Mann warf nur einen kurzen Blick auf Carlas Uniform und winkte sie durch.

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