Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
brachen die Labour-Mitglieder rings um Daisy in Jubel aus. Sie brauchte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass dieser Jubel nur Lloyds Sieg bedeuten konnte. Dann schlug seine ernste Miene in ein breites Grinsen um. Daisy applaudierte und jubelte lauter als alle anderen. Lloyd hatte gewonnen! Sie musste ihn nicht verlassen! Es kam ihr vor, als wäre ihr gerade das Leben neu geschenkt worden.
»Aus diesem Grund erkläre ich Lloyd Williams zum ordnungsgemäß gewählten Parlamentsabgeordneten für Hoxton.«
Damit gehörte Lloyd dem Unterhaus an. Daisy beobachtete stolz, wie er vortrat und eine kurze Rede hielt, mit der er die Wahl annahm. Für solche Reden gab es Formeln; das wurde ihr rasch klar, als er sich umständlich beim Wahlleiter und dessen Leuten bedankte, um anschließend seinen unterlegenen Gegnern für den fairen Wahlkampf zu danken.
Daisy konnte es kaum erwarten; sie wollte ihn in die Arme schließen. Lloyd beendete seine Ansprache mit ein paar Sätzen über die vor ihm liegenden Aufgaben, den Wiederaufbau des vom Kriege gezeichneten Großbritannien und den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft.
Begleitet von noch stärkerem Applaus, trat Lloyd vom Rednerpult zurück und stieg von der Bühne. Er ging direkt zu Daisy, nahm sie in die Arme und küsste sie.
»Gut gemacht, Liebling«, sagte sie; dann versagte ihr die Stimme.
Nach einer Weile verließen sie den Saal und fuhren mit dem Bus zur Labour-Parteizentrale in Transport House. Dort erfuhren sie, dass Labour bereits 106 Sitze errungen hatte.
Es war ein Erdrutsch.
Sämtliche Experten hatten sich geirrt, und jedermanns Erwartungen wurden über den Haufen geworfen. Als die Ergebnisse feststanden, hatte Labour 393 Sitze, die Konservativen 210. Die Liberalen hielten zwölf, die Kommunisten einen – Stepney. Labour hatte eine überwältigende Mehrheit errungen.
Um sieben Uhr abends begab sich Winston Churchill, der Großbritannien durch den Krieg geführt hatte, zum Buckingham Palace und trat als Premierminister zurück.
Daisy dachte an eine von Churchills Sticheleien gegen Attlee:»Ein leeres Auto fuhr vor, und Clem stieg aus.« Der Mann, der von Churchill als bedeutungslos erklärt worden war, hatte ihn niedergerungen.
Um halb acht fuhr Clement Attlee im eigenen Wagen am Palast vor – hinter dem Lenkrad saß seine Frau Violet –, und König George VI . bat ihn, sein Premierminister zu werden.
Im Haus auf der Nutley Street wandte sich Lloyd, nachdem sie die Radionachrichten gehört hatten, Daisy zu und fragte: »Das wär’s dann also. Können wir jetzt heiraten?«
»Ja«, sagte Daisy. »So bald du möchtest.«
Wolodjas und Zojas Hochzeitsempfang fand in einem der kleineren Festsäle im Kreml statt.
Der Krieg mit Deutschland war zu Ende, doch die Sowjetunion litt noch immer unter den Folgen, und eine größere Feier hätte man dem jungen Paar übel genommen. Zoja trug ein neues Kleid, Wolodja nur seine alte Uniform. Doch es gab reichlich zu essen, und der Wodka floss in Strömen.
Wolodjas Neffe und Nichte, die Zwillinge seiner Schwester Anja und ihres widerlichen Ehemannes Ilja Dworkin, waren ebenfalls erschienen. Sie waren noch nicht ganz sechs Jahre alt. Dimka, der dunkelhaarige Junge, saß ruhig in der Ecke und blätterte in einem Bilderbuch, während die blauäugige Tanja zum Unwillen der Gäste durch den Saal tollte und gegen Tische und Stühle stieß.
Zoja sah in ihrem rosafarbenen Kleid so verführerisch aus, dass Wolodja sie am liebsten sofort ins Bett gezerrt hätte. Aber das stand natürlich außer Frage. Zum Freundeskreis seines Vaters zählten die höchsten Militärs und Politiker des Landes; viele von ihnen waren gekommen, um dem Brautpaar Glück zu wünschen. Grigori hatte zudem angedeutet, dass später vielleicht noch ein ganz besonders illustrer Gast erschien. Wolodja hoffte nur, dass es sich nicht um Lawrenti Berija handelte, den grausamen Chef des NKWD .
Sein privates Glück ließ Wolodja nicht völlig die Schrecken vergessen, die er gesehen hatte, und auch nicht die tiefgehenden Vorbehalte, die er gegen den Sowjetkommunismus entwickelthatte. Die unaussprechliche Brutalität der Geheimpolizei, Stalins katastrophale Fehler, die Millionen das Leben gekostet hatten, und die Hetzpropaganda, mit der die Rotarmisten ermutigt worden waren, sich in Deutschland wie Tiere zu benehmen – dies alles hatte Zweifel an den politischen Grundsätzen geweckt, die man Wolodja gelehrt hatte. Besorgt fragte er sich, in was für einem
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