Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
seinem Erschrecken sah Wolodja, dass sein Vater noch immer tanzte. Es waren Leute schon für weniger erschossen worden.
Doch Stalin hatte keinen Blick mehr für die Hochzeitsgäste. Mit seinem Sekretär an der Seite verließ er den Tisch und ging quer über die Tanzfläche zur Tür. Erschrockene Tänzer sprangen ihm aus dem Weg. Ein Paar stürzte. Stalin schien es gar nicht zu bemerken. Die Kapelle verstummte mit einem schrillen Misston. Schweigend und mit starrem Blick verließ Stalin den Saal.
Mehrere hohe Generale und Marschälle folgten ihm hinaus. Sie machten einen ängstlichen Eindruck.
Drei weitere Sekretäre und Adjutanten betraten den Saal, suchten ihre Chefs und sprachen mit ihnen. Ein junger Mann im Tweedjackett ging zu Wassili. Zoja schien den Mann zu kennen, und sie hörte ihm fassungslos zu. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Entsetzen.
Wassili und der junge Mann verließen den Saal. Wolodja ging zu Zoja. »Was ist los, um Himmels willen?«, fragte er.
Zojas Stimme zitterte. »Die Amerikaner haben in Japan eine Atombombe abgeworfen.« Ihr schönes Gesicht wirkte noch weißer und ätherischer als sonst. »Anfangs wusste die japanische Regierung gar nicht, was geschehen war. Es hat Stunden gedauert, bis es ihnen klar wurde.«
»Stimmt das denn alles?«
»Die Bombe hat mehrere Quadratkilometer Wohngebiet dem Erdboden gleichgemacht. Man geht davon aus, dass fünfundsiebzigtausend Menschen auf der Stelle tot waren.«
»Wie viele Bomben waren es?«
»Das sagte ich doch schon. Eine.«
»Eine?«
»Ja.«
»Himmel! Kein Wunder, dass Stalin so blass geworden ist.«
Beide schwiegen. Es war deutlich zu sehen, wie die Neuigkeit sich im Saal verbreitete. Viele Gäste saßen wie benommen da, während andere aufstanden und in ihre Büros und zu ihren Telefonen eilten.
»Das ändert alles«, sagte Wolodja.
»Einschließlich unserer Pläne für die Flitterwochen«, fügte Zoja hinzu. »Mein Urlaub wurde gestrichen.«
»Und wir dachten, die Sowjetunion wäre sicher.«
»Ja. Dein Vater hat in seiner Rede gerade erst erklärt, die Revolution sei noch nie so sicher gewesen.«
»Und jetzt ist gar nichts mehr sicher.«
Zoja nickte. »Jedenfalls nicht, solange wir nicht auch eine Bombe haben.«
Jacky Jakes und Georgy waren in Buffalo; Gregs Mutter hatte sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung aufgenommen. Greg und Lev waren ebenfalls da. Am Tag des Sieges über Japan – Mittwoch, dem 15. August – gingen sie zusammen in den Humboldt Park. Die Wege waren voller jubelnder Paare, und Hunderte von Kindern planschten im Teich.
Greg war stolz und glücklich. Die Bombe hatte ihr Werk verrichtet. Die beiden nuklearen Sprengkörper, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden waren, hatten entsetzliche Verwüstungen angerichtet, damit aber zu einem raschen Kriegsende geführt und Tausenden Amerikanern das Leben gerettet, und Greg hatte seinen Beitrag dazu geleistet. Georgy konnte in einer freien Welt aufwachsen.
»Er ist neun«, sagte Greg zu Jacky. Sie saßen auf einer Bank und unterhielten sich, während Lev und Marga mit Georgy zum Eiscremestand gingen.
»Ich kann es kaum glauben.«
»Ich möchte wissen, was einmal aus ihm wird.«
Grimmig erwiderte Jacky: »Er wird jedenfalls keinen Schwachsinn machen wie schauspielern oder Trompete blasen. Er hat Köpfchen.«
»Hättest du gern, dass er Collegeprofessor wird wie dein Vater?«
»Ja.«
»Wenn das so ist, sollte er eine gute Schule besuchen.« Greg hatte darauf hingearbeitet; nun fragte er sich nervös, wie Jacky reagieren würde.
»Woran denkst du?«
»Wie wäre es mit einem Internat? Er könnte auf meine alte Schule gehen.«
»Er wäre der einzige schwarze Schüler.«
»Nicht unbedingt. Als ich dort war, hatten wir einen farbigen Jungen, einen Inder aus Delhi namens Kamal.«
»Nur einen.«
»Ja.«
»Wurde er gepiesackt?«
»Sicher. Wir nannten ihn Kamel. Aber die Jungs gewöhnten sich an ihn, und er hatte Freunde.«
»Weißt du, was aus ihm geworden ist?«
»Apotheker. Soviel ich weiß, gehören ihm bereits zwei Drugstores in New York.«
Jacky nickte. Greg merkte, dass sie nicht gegen seinen Plan eingenommen war. Sie kam aus einer kultivierten Familie. Zwar hatte sie selbst rebelliert und die Schule verlassen, aber sie glaubte an den Wert der Bildung. »Was ist mit dem Schulgeld?«
»Ich könnte meinen Vater fragen.«
»Würde er es zahlen?«
»Sieh sie dir an.« Greg deutete den Weg entlang. Georgy kam mit seinen Großeltern vom
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