Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
krochen unter, wo immer sie konnten, oft in den übrig gebliebenen Zimmern eines ansonsten zerbombten Hauses.
Wenigstens gab es wieder fließendes Wasser, hin und wieder sogar Strom, aber es war so gut wie unmöglich, etwas zum Heizen oder Kochen zu finden – es sei denn, man konnte irgendetwas an den Mann bringen. Carla und Maud hatten dieses Glück. Es war ihnen gelungen, eine alte Kommode zu verkaufen, ein Jugendstilmöbel in heller Eiche, das Walters Eltern sich nach ihrer Heirat im Jahr 1889 zugelegt hatten.
Carla, Maud und Ada hatten die Kommode auf einen geliehenen Handkarren geladen, den sie nun durch die Stadt schoben. Rebecca ließen sie zu Hause. Die Gewaltorgien der Roten Armee hatten zwar ihren Höhepunkt überschritten, und Rebecca hauste nicht mehr auf dem Speicher; aber ein hübsches junges Mädchen war auf der Straße noch lange nicht sicher.
Sie brachten die Kommode nach Wedding, in den französischen Sektor, und verkauften sie für eine Stange Gitanes an einen freundlichen Oberst aus Paris. Das Besatzungsgeld war wertlos geworden, weil die Sowjets zu viel davon druckten; deshalb wurde fast alles gegen Zigaretten getauscht, die als Ersatzwährung dienten.
Auf dem Rückweg zogen Maud und Ada den Karren, und Carla ging neben ihnen her. Ihr taten vom Hinweg sämtliche Knochen weh, aber die Mühe hatte sich gelohnt: Für eine Stange Zigaretten konnten sie genug Lebensmittel eintauschen, um sich ein paar Tage lang satt zu essen.
Die Dunkelheit brach herein, und die Temperatur fiel unter den Gefrierpunkt. Ihr Heimweg führte die drei Frauen ein kurzes Stück in den britischen Sektor. Manchmal fragte sich Carla, ob die Briten ihrer Mutter wohl helfen würden, wenn sie wüssten, was sie erdulden musste. Andererseits besaß Maud seit sechsundzwanzig Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihr Bruder, Earl Fitzherbert, war wohlhabend und einflussreich, doch er hatte sich geweigert, Maud nach der Heirat mit Walter von Ulrich weiter zu unterstützen, und er war stur. Es war unwahrscheinlich, dass er seine Haltung änderte.
Die drei Frauen kamen an einer kleinen Menschenmenge vorbei – dreißig, vierzig zerlumpte Gestalten, die sich vor einem Haus versammelt hatten, das von den britischen Besatzern requiriert worden war. Neugierig blieben sie stehen, als sie sahen, dass in dem Haus eine Party gefeiert wurde. Durch die Fenster konnten sie hell erleuchtete Zimmer erkennen, lachende Männer und Frauen mit Drinks in der Hand und Bedienstete, die Tabletts zwischen den Feiernden umhertrugen.
Carla schaute sich um. Die Menge vor dem Haus bestand vorwiegend aus Frauen und Kindern – Männer gab es nicht mehr viele in Berlin oder sonst wo in Deutschland –, und alle starrten sehnsüchtig auf die Fenster wie abgewiesene Sünder vor der Himmelspforte. Es war ein beklagenswerter Anblick.
»Das ist obszön!«, schimpfte Maud und ging mit entschlossenen Schritten auf die Haustür zu.
Ein britischer Soldat trat ihr in den Weg und sagte: »Nein, nein.« Vermutlich war es das einzige deutsche Wort, das er kannte.
»Ich will sofort Ihren kommandierenden Offizier sprechen«, verlangte Maud in dem arroganten Englisch der Oberschicht, das sie als junge Frau gesprochen hatte.
Zweifelnd musterte der Soldat Mauds alten Mantel, klopfte dann aber an die Tür. Sie wurde geöffnet, und ein Gesicht schaute heraus. »Eine englische Lady will den CO sprechen«, meldete der Wachsoldat.
Einen Augenblick später öffnete sich die Tür erneut, und ein Paar erschien. Die beiden sahen aus wie die Karikatur eines britischen Offiziers und seiner Gattin: Er trug Galauniform mit schwarzer Schleife, sie ein langes Abendkleid mit Perlenkette.
»Guten Abend«, sagte Maud. »Es tut mir leid, Ihre Party stören zu müssen.«
Das Paar starrte sie verwundert am. Eine zerlumpte, abgemagerte Frau, die ein gepflegtes Englisch mit Oberklassenakzent sprach, sah man im zerstörten Berlin nicht alle Tage.
»Wissen Sie eigentlich, was Sie den armen Menschen hier draußen antun?«, fuhr Maud fort. »Sie könnten wenigstens die Vorhänge zuziehen.«
Das Paar blickte zu der zerlumpten Menge vor den Fenstern. Die Frauen und Kinder schauten sie mit großen Augen an.
»Du meine Güte, George«, sagte die Offiziersgattin, »die Dame hat recht. Das ist grausam von uns.«
»Wenn überhaupt, dann ist es unbeabsichtigt«, gab George mürrisch zurück.
»Was hältst du davon, wenn wir ein bisschen Abbitte leisten und diesen Leuten etwas zu essen
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