Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
sie gesagt. »Zeigt, dass wir anders sind. Macht eine ruhige, gesittete Veranstaltung, auf der ihr über das wahre Gesicht des Faschismus sprecht. Ich komme als Rednerin, wenn du möchtest.«
Lloyd hatte diesen Vorschlag dem Cambridger Ortsverein vorgelegt. Eine lebhafte Diskussion entbrannte, in der Ruby als Wortführerin gegen Ethels Vorschlag auftrat, doch am Ende gab die Aussicht, eine Parlamentsabgeordnete und prominente Frauenrechtlerin als Rednerin zu bekommen, den Ausschlag.
Lloyd war sich noch immer nicht sicher, ob die Entscheidung richtig gewesen war. Er erinnerte sich, wie Maud von Ulrich in Berlin gesagt hatte, sie dürften der Gewalt nicht mit Gewalt entgegentreten; das war die Politik der Sozialdemokratischen Partei gewesen. Für die Familie von Ulrich und für Deutschland hatte sich diese Politik als katastrophal erwiesen.
Sie verließen den Bahnhof durch die romanischen Bögen aus gelbem Backstein und eilten die baumbestandene Station Road entlang, an der sich schmucke Mittelklassehäuser reihten, die aus dem gleichen Backstein errichtet waren. Ethel hakte sich bei Lloyd ein. »Wie geht es meinem kleinen Studenten denn so?«
Lloyd lächelte über das »klein«. Er überragte seine Mutter um fast einen Kopf, und das Training mit der Boxmannschaft der Universität hatte ihn muskulös und kräftig werden lassen. Er hätte Ethel mit einer Hand anheben können. Natürlich wusste er, dass sie vor Stolz platzte. Seine Immatrikulation in Cambridge war einer der Höhepunkte ihres Lebens gewesen. Wahrscheinlich wollte sie ihm deshalb neue Anzüge kaufen.
»Mir gefällt es hier, das weißt du. Aber Cambridge wird mir noch besser gefallen, wenn hier mehr Jungs aus der Arbeiterschicht studieren.«
»Und Mädchen«, warf Ruby ein.
Sie bogen in die Hills Road ein, die Hauptverkehrsstraße, die zum Stadtzentrum führte. Seit Cambridge an das Eisenbahnnetz angeschlossen war, hatte die Stadt sich nach Süden zum Bahnhof hin ausgebreitet. Längs der Hills Road waren Kirchen für den neuen Vorort errichtet worden. Ihr Ziel war eine baptistische Kapelle; der Pfarrer, der mit der Labour Party sympathisierte, hatte sie für die Veranstaltung kostenlos zur Verfügung gestellt.
»Ich habe eine Vereinbarung mit den Faschisten getroffen«, sagte Lloyd. »Ich habe vorgeschlagen, dass wir auf einen Marsch verzichten, wenn sie es auch tun. Sie waren einverstanden.«
»Das wundert mich«, entgegnete Ethel. »Faschisten lieben das Marschieren.«
»Sie haben lange gezögert. Doch als ich meinen Vorschlag an die Universitätsverwaltung und die Polizei weitergegeben habe, mussten sie einwilligen.«
»Ganz schön clever.«
»Weißt du, wer ihr Anführer hier in Cambridge ist? Viscount Aberowen, auch bekannt als Boy Fitzherbert, der Sohn deines früheren Arbeitgebers Earl Fitzherbert!« Boy war einundzwanzig, im gleichen Alter wie Lloyd. Er gehörte dem Trinity College an, dem reichsten und nobelsten College in Cambridge.
»Was?«, stieß Ethel hervor. »Meine Güte!«
Ihre Reaktion fiel heftiger aus, als Lloyd erwartet hatte. Sie war bleich geworden. »Bist du schockiert?«, fragte er.
»Mein Gott, ja! Sein Vater ist Staatssekretär im Außenministerium.« Die Regierung war eine von den Konservativen geführte Koalition. »Wie peinlich für Fitz.«
»Die meisten Konservativen sind dem Faschismus gegenüber nachsichtig. Es scheint ihnen nichts auszumachen, wenn Kommunisten ermordet und Juden verfolgt werden.«
»Übertreib es nicht«, sagte Ethel. »Das gilt allenfalls für ein paar von ihnen.« Sie blickte Lloyd von der Seite an. »Also hast du Boy aufgesucht?«
»Ja.« Es schien eine besondere Bedeutung für sie zu haben, ohne dass Lloyd sich den Grund dafür erklären konnte. »Ich fand ihn widerlich. In seinem Zimmer im Trinity hatte er eine ganze Kiste Scotch – zwölf Flaschen!«
»Du bist ihm schon einmal begegnet, erinnerst du dich?«
»Nein. Wann war das?«
»Du warst neun Jahre alt. Ich hatte dich zum Westminster Palace mitgenommen, kurz nach meiner ersten Wahl. Wir sind Fitz und Boy auf der Treppe begegnet.«
Lloyd erinnerte sich schwach. Damals wie heute schien seine Mutter dem Ereignis eine besondere, mysteriöse Bedeutung zuzumessen. »Das war Boy? Wie witzig.«
»Ich kenne ihn«, warf Ruby ein. »Er ist ein Schwein. Er betatscht die Dienstmädchen.«
Lloyd war entsetzt, doch seine Mutter schien es nicht zu überraschen. »Sehr unangenehm, aber so etwas passiert ständig.«
Sie erreichten die
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