Winter der Zärtlichkeit
auch sein mag.“ Voller Zärtlichkeit dachte er an die auf gereihten Bücher im Regal des Hauses. Er hatte sie alle schon einmal gelesen - und die meisten sogar mehrfach. Außerdem borgte er sich Bücher von seinem Onkel Kade aus, und seine Mutter schickte ihm regelmäßig welche aus Texas. Trotzdem konnte er nicht genug von diesen verdammten Dingern bekommen.
„Ma hat darüber gesprochen, wieder zurück nach Montana zu gehen“, platzte es aus Tobias heraus. Er sah Doss nicht an, sondern hielt den Blick auf die kurzgeschorene Mähne des Maultiers gesenkt. „Wenn sie mich zwingen will mitzukommen, laufe ich weg.“
Natürlich wusste Doss, dass Hannah darüber nachdachte, zu ihrer Familie zurückzukehren. Aber die Worte laut ausgesprochen zu hören gab ihm das Gefühl, nicht nur vom Pferd geschleudert, sondern auch noch niedergetrampelt zu werden.
„Wohin würdest du gehen?“, fragte er, als er glaubte, wieder mit normaler Stimme sprechen zu können - was nicht ganz funktionierte. „Wenn du weglaufen würdest, meine ich.“
Tobias drehte sich in seinem Sattel um und sah ihn an. „Ich würde mich irgendwo in den Bergen verstecken“, verkündete er mit überzeugender Unschuld. „Vielleicht in der Schlucht, in der Kade und Mandy die Banditen gestellt haben.“
Trotz allem musste Doss sich ein Lachen verkneifen. Er kannte diese Geschichte noch aus seiner Jugend, und bis heute fragte er sich, wie viel davon Wahrheit und wie viel Legende war. Mandy war eine Scharfschützin gewesen und Kade der Polizeichef von Indian Rock, also war es vielleicht wirklich so passiert, wie sein Vater und seine Onkel es immer geschildert hatten.
„Gewaltig kalt da oben“, erklärte er dem Jungen. „Da gibt es nur eine Höhle als Unterschlupf. Und wo würdest du Essen herbekommen ? “
Bei dieser Frage sackten Tobias’ Schultern etwas herab unter all den Lagen von Kleidungsstücken, die Hannah ihm angezogen hatte. „Ich könnte jagen. Pa hat mir beigebracht, wie man schießt.“
„Die McKettricks laufen nicht weg“, warf Doss ein.
Tobias blickte ihn finster an. „Sie leben aber auch nicht in Missoula.“
Das brachte Doss zum Lachen, was ihm etwas von der Last nahm, die er seit der Liebesnacht mit Hannah nicht loswurde. Gabe war tot, aber es fühlte sich noch immer so an, als ob er ihn betrogen hätte. „Sie leben an den verschiedensten Orten“, sagte Doss. „Das weißt du auch.“
„Ich gehe trotzdem nicht mit“, beharrte Tobias.
„Vielleicht musst du das gar nicht“, erklärte Doss und räusperte sich.
Neugierig sah der Junge ihn an.
„Was würdest du sagen, wenn ich deine Ma heirate?“, erkundigte sich Doss.
Tobias sah aus, als ob er eine hell leuchtende Laterne verschluckt hätte. „Das würde mir gefallen“, strahlte er. „Das würde mir sogar sehr gefallen!“
Zu dumm, dass Hannah seine Begeisterung nicht teilte. „Ich hatte Angst, dass du meine Idee nicht gut findest“, gestand Doss. „Weil ich der Bruder von deinem Pa bin.“
„Pa würde sich freuen. Das weiß ich.“
Insgeheim war Doss der gleichen Meinung. Gabe war ein praktischer Mann gewesen, und er würde sich wünschen, dass sie alle ihr Leben weiterlebten. Plötzlich brannten seine Augen so heftig, dass er seine Hutkrempe tief nach unten ziehen und für einen Moment wegsehen musste.
Pass auf Hannah und meinen Jungen auf, hatte Gabe gesagt. Versprich mir das, Doss.
„Ist Ma einverstanden?“, fragte Tobias und zog die Augenbrauen zusammen, bis sein ganzes Gesichtchen sich runzelte. „Letzte Nacht habe ich ihr gesagt, dass sie dich heiraten soll, und sie sagte, es wäre nicht richtig.“
Um die Beine zu strecken, stellte Doss sich in seinen Steigbügeln auf. „Dinge können sich ändern“, meinte er behutsam. „Sogar innerhalb einer Nacht.“
„Liebst du meine Ma?“
Die Frage war nicht leicht zu beantworten, zumindest nicht laut. Er liebte Hannah seit dem Tag, an dem Gabe sie als seine Braut mit nach Hause gebracht hatte. Er hatte sie leidenschaftlich, hoffnungslos und ehrenhaft aus einer angemessenen Distanz geliebt. Gabe aber hatte es sofort gemerkt und gewartet, bis sie allein im Stall waren. Dort hatte er ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: Schäm dich nicht, mein kleiner Bruder, es fällt leicht, meine Hannah zu lieben.
„Natürlich liebe ich sie“, sagte Doss. „Sie gehört zur Familie.“
Doch Tobias verzog das Gesicht. „Ich meine nicht so.“
Der Junge war erst acht. Er konnte nicht wissen, was
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