Winter der Zärtlichkeit
gewesen wären wie wir, wenn wir uns jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hätten.“
In Sierras Kopf drehte sich alles. Die Klaviermelodie, die sie letzte Nacht gehört hatte, kam ihr wieder in den Sinn. „Du willst doch nicht etwa sagen, dass du wirklich daran glaubst ..."
„Ich will sagen, dass ich gewisse Erlebnisse hatte“, sagte ihr Eve. „Ich habe nie jemanden gesehen, sondern nur das starke Gefühl gehabt, dass noch jemand da ist. Und natürlich gab es auch noch die berühmte verschwindende Teekanne.“
Zugleich erleichtert und verwirrt sank Sierra nach hinten an die Sessellehne. Hatte sie Meg von der Teekanne erzählt? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Vielleicht hatte Travis sie erwähnt. Hatte er Eve angerufen, um ihr zu berichten, dass ihre Tochter ein bisschen verrückt war?
„Sierra?“
„Ich bin noch immer da.“
„Ich habe beispielsweise die Teekanne aus dem Schrank genommen“, erklärte Eve, „und bin dann aus der Küche gegangen, um etwas anderes zu erledigen. Als ich wieder zurückkam, stand sie wieder im Schrank. Die gleiche Geschichte ist auch meiner Mutter und meiner Großmutter passiert. Sie dachten, es wäre Lorelei.“
„Aber wie soll das möglich sein?“
„Wer weiß?“, entgegnete Eve, offenkundig unbesorgt. „Das Leben ist eben rätselhaft.“
Das ist es mit Sicherheit, dachte Sierra. Kleine Mädchen werden von ihrer Mutter getrennt und niemanden kümmert es.
„Ich möchte gern kommen und dich treffen“, fuhr Eve fort. „Sobald das Wetter es zulässt. Wäre das in Ordnung, Sierra? Wenn ich ein paar Tage auf der Ranch verbringe, meine ich? Damit wir uns in Ruhe unterhalten können?“
Sierra schlug das Herz bis zum Hals. „Es ist dein Haus“, antwortete sie. Doch am liebsten hätte sie den Hörer hingeschmissen und sich Liam geschnappt, um zu verschwinden, bevor sie dieser Frau gegenüberstehen musste.
„Ich werde nicht kommen, wenn du noch nicht bereit dazu bist“, meinte Eve sanft.
Vielleicht werde ich nie dazu bereit sein, dachte Sierra. Laut sagte sie: „Ich schätze, ich bin es.“
„Gut. Dann komme ich, sobald der Jet landen kann. Wenn kein neuer Schneesturm dazwischenkommt, sollte das morgen oder übermorgen der Fall sein.“
Der Jet? „Sollen wir dich irgendwo abholen?“, erkundigte sich Sierra.
„Ich werde mich von einem Fahrer abholen lassen. Brauchst du irgendetwas, Sierra?“
Als Kind hätte ich eine Mutter brauchen können. Und als ich Liam bekam und Dad so getan hat, als ob nichts geschehen wäre, hätte ich dich auch ganz gut brauchen können, Mom. „Mir geht’s gut“, wehrte sie ab.
„Ich melde mich, bevor ich aufbreche“, versprach Eve. Nach einer erneuten vorsichtigen Pause und einem schnellen Abschiedsgruß legte sie auf.
Danach saß Sierra lange im Sessel und hielt den Hörer in der Hand. Vielleicht hätte sie sich nie mehr gerührt, wenn Liam nicht gekommen wäre, um sie zum Frühstück zu holen.
1919
Der Ritt zu den Jessups war kalt, und er kam Doss endlos vor. Sie kamen nur schwer voran. Immer wieder blickte er besorgt zu seinem Neffen, der bis zu den Augen eingemummelt geduldig auf seinem Maultier neben ihm ritt. Jetzt wünschte er, er hätte auf Hannah gehört und den Jungen zu Hause gelassen.
Mehr als einmal war er versucht, das Thema anzusprechen, das ihm am meisten auf dem Herzen lag. Die halbe Nacht hatte er damit gerungen - aber er wusste einfach nicht, wie er es anfangen sollte.
Ich habe die Absicht, deine Mutter zu heiraten.
Das war die Wahrheit, ganz einfach.
Tobias würde nach den Gründen fragen. Vielleicht hätte er sogar etwas dagegen. Er hatte seinen Vater geliebt und wollte womöglich nicht, dass sein alter Onkel Doss nun dessen Stelle einnahm.
„Hast du jemals daran gedacht, in der Stadt zu leben?“, unterbrach Tobias plötzlich seine Gedanken.
Doss brauchte einen Moment, um sich auf dieses überraschende Thema zu konzentrieren. „Manchmal“, antwortete er schließlich. „Speziell im Winter.“
„Dort ist es auch nicht wärmer als hier“, erklärte Tobias. Worauf er auch immer hinauswollte, es war weder seinem Gesicht noch seiner Tonlage zu entnehmen.
„Nein“, stimmte Doss zu. „Aber man ist unter Leuten. Man kann die Post täglich vom Postamt holen und muss nicht eine Woche darauf warten, dass der Postwagen kommt. Man kann hin und wieder zum Essen ins Restaurant gehen. Und ich muss zugeben, dass ich eine Bibliothek schon verlockend finde, so klein sie
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