Winter der Zärtlichkeit
letzte Nacht geschehen war.
Oder?
„Wie meinst du dann?“
„Pa hat Ma die ganze Zeit geküsst. Er hat auch immer ihren Po angefasst, wenn er dachte, dass niemand es sehen würde. Sie musste immer lachen, und dann hat sie sich ganz fest an ihn gedrückt und die Arme um seinen Hals gelegt.“
Wenn Doss allein geritten wäre, hätte er mit beiden Händen den Sattelknauf umklammert, weil es so wehtat. Nicht die Tatsache, wie sehr sich Hannah und Gabe geliebt hatten, schmerzte ihn, sondern der Verlust seines Bruders und die Erinnerung daran, wie es gewesen war und nie mehr sein würde.
„Ich werde deine Mutter gut behandeln“, schloss er, nachdem er den Hut noch tiefer gezogen und noch weiter weggesehen hatte.
„Du scheinst ziemlich sicher zu sein, dass sie Ja sagen wird“, bemerkte der Junge.
„Das hat sie schon“, erwiderte Doss.
Heute
Am späten Vormittag schneite es wieder. Weil Sierra befürchtete, dass der Strom wieder ausfallen und dieses Mal nicht so schnell wieder fließen würde, sammelte sie ihre und Liams Schmutzwäsche ein und stellte die Waschmaschine an. Vom Arbeitszimmer aus hatte sie die Ärztin in Flagstaff angerufen, während Liam und Travis den Geschirrspüler einräumten - allerdings ohne seine Halluzinationen zu erwähnen. Schließlich hatte sie selbst das Klavier spielen hören, und Eve hatte über all das gesprochen, als ob es ganz normal wäre.
Zwar wusste Sierra noch nicht genau, was hier eigentlich vorging. Und nach wie vor beunruhigte sie Liams Behauptung, einen Jungen in altmodischen Kleidern zu sehen, aber sie war noch nicht bereit, das Thema mit einem Außenstehenden zu besprechen, egal, ob es sich dabei um eine Ärztin handelte oder nicht.
Dr. O’Meara hatte Liams Akte, die ihr von der Klinik in Florida geschickt worden war, bereits durchgesehen. Sie wollte, dass Liam immer einen Inhalator bei sich trug und versprach, ein Rezept an die Apotheke in Indian Rock zu schicken. Am Ende des Gesprächs vereinbarten sie einen Termin für den nächsten Montag.
Liam saß im Arbeitszimmer und sah fern, während Travis draußen Holz für den Ofen und die offenen Kamine hackte. Falls der Strom wieder ausfiel, brauchten sie Holz zum Kochen. Der Generator erzeugte Strom für die Heizung und ein paar Lampen, aber er verbrauchte viel Benzin. Außerdem bestand immer die Gefahr, dass er kaputtging oder einfror.
Als Sierra gerade begann, das Mittagessen zuzubereiten, kam Travis mit einer Armladung voll Holz in die Küche.
Sie musste daran denken, was Eve ihr am Telefon erzählt hatte. Travis jüngerer Bruder war erst vor Kurzem unter schrecklichen Umständen ums Leben gekommen. Nur kurze Zeit später hatte Travis seinen Job gekündigt und war auf die Ranch gezogen, um in einem Wohnwagen zu wohnen und sich um Megs Pferde zu kümmern.
Er sah nicht aus wie ein Mann, der eine schwere Bürde auf den Schultern trägt, aber der Schein konnte trügen. Das wusste niemand besser als Sierra.
„Was haben Sie eigentlich beruflich gemacht, bevor Sie hier angefangen haben?“, fragte sie, um sich gleich darauf zu verwünschen. Denn Travis’ Gesicht verschloss sich, und seine Augen wurden leer.
„Nichts Besonderes“, wich er aus.
„Ich war Kellnerin in einer Cocktailbar“, erklärte sie, weil sie das Gefühl hatte, etwas von sich preisgeben zu müssen, da ihre Frage offenbar zu aufdringlich gewesen war.
Wie er in seiner Lederjacke und mit dem Cowboyhut so neben dem antiken Herd stand, hätte er genauso gut aus einer anderen Zeit kommen können, aus einem früheren Jahrhundert.
„Ich weiß“, nickte er. „Meg hat es mir erzählt.“
„Das war ja klar.“ Sierra schüttete eine Dosensuppe in den Kochtopf, begann, geschäftig darin zu rühren und errötete.
Lange schwieg Travis. „Ich habe bei McKettrickCo als Anwalt gearbeitet“, sagte er dann.
Aus den Augenwinkeln warf Sierra ihm einen Blick zu. Er sah angespannt aus, so wie er seinen Hut in einer Hand hielt.
„Eindrucksvoll“,, bemerkte sie.
„Nicht besonders“, gab er zurück. „In meiner Familie sind alle Anwälte. Zumindest alle außer meinem Bruder Brody. Der wurde stattdessen von Meth abhängig und hat sich selbst ins Jenseits gesprengt, als er sich gerade eine Ladung zubereiten wollte. Tja.“
Sierra drehte sich zu ihm um und sah, dass sein Gesichtsausdruck hart geworden war und seine Augen sogar noch härter. Er war wütend oder voller Schmerz oder beides.
„Das tut mir aufrichtig leid.“
„Ja“,
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