Winter der Zärtlichkeit
Herd aus dem 19. Jahrhundert! In diesem Moment fühlte sie sich mit all den McKettrick-Frauen verbunden, die vor ihr hier gelebt hatten.
Als der Strom mit einem erstaunlich lauten Knall wieder ansprang, war sie fast ein wenig enttäuscht. Mit einem Auge auf der Bratpfanne sah sie sich die Morgennachrichten in dem kleinen Fernseher auf dem Küchentresen an.
Der ganze nördliche Teil von Arizona war von dem Schneesturm überrascht worden, Tausende waren ohne Strom. Sie sah Bilder von Menschen, die auf Skiern zur Arbeit fuhren.
Das Telefon klingelte. „Hallo?“, meldete Sierra sich.
„Hier ist Eve“, antwortete eine freundliche Stimme. „Bist du das, Sierra?“
Augenblicklich erstarrte Sierra. Gleichzeitig kamen Travis und Liam von draußen herein, sie lachten über irgendetwas. Doch als sie Sierra sahen, verstummten sie, und keiner der beiden bewegte sich mehr, nachdem Travis die Tür geschlossen hatte.
„Hallo?“, fragte Eve. „Sierra, bist du da?“
„Ich bin ... Ich bin da“, sagte Sierra.
Travis legte Jacke und Hut ab, durchquerte den Raum und schob sie vom Herd. „Gehen Sie“, sagte er und deutete mit dem Daumen zur Küchentür. „Liam und ich kümmern uns ums Frühstück.“
Nach einem dankbaren Nicken eilte sie aus der warmen Küche. Im Esszimmer war es kalt.
„Ist es ein schlechter Zeitpunkt, um zu sprechen?“, fragte Eve. Sie klang unsicher, sogar ein bisschen schüchtern.
„Nein ...“, entgegnete Sierra rasch. Inzwischen im Arbeitszimmer angekommen, schloss sie die Tür und nahm in dem großen Ledersessel Platz, in dem sie auch letzte Nacht gesessen und darauf gewartet hatte, dass das Feuer ausging. Jetzt konnte sie ihren Atem sehen und sehnte sich nach einem Feuer. „Nein, es ist gut.“
Eve atmete hörbar aus. „Ich habe auf dem Wetterkanal gesehen, dass ihr da oben einen ganz schön heftigen Schneesturm hattet.“
Unwillkürlich nickte Sierra, erst dann fiel ihr wieder ein, dass ihre Mutter - die Frau, die sie nicht kannte - sie gar nicht sehen konnte. „Ja“, sagte sie. „Der Strom ist wieder da, dank Travis. Er hat außerdem den Generator angeworfen, also funktioniert auch die Heizung und ...“
Die letzten Worte verschluckte sie, schließlich wollte sie die Zeit nicht mit Gequassel verschwenden.
„Armer Travis“, meinte Eve.
„Arm?“, wiederholte Sierra. „Warum?“
„Hat er es dir nicht erzählt? Oder Meg?“
„Nein. Niemand hat mir irgendwas erzählt.“
Eine lange Pause entstand, dann seufzte Eve. „Wahrscheinlich sollte ich das gar nicht sagen, aber wir machen uns alle etwas Sorgen um Travis. Er gehört irgendwie zur Familie, weißt du. Vor ein paar Monaten ist sein jüngerer Bruder Brody bei einer Explosion ums Leben gekommen. Das hat Travis völlig aus der Bahn geworfen. Er hat seinen Job gekündigt und Flagstaff verlassen. Meg musste mit Engelszungen auf ihn einreden, dass er auf die Ranch kommt und bleibt.“
Sierra war sehr froh, dass sie nicht mehr in der Küche stand.
„Das wusste ich nicht“, erklärte sie.
„Ich habe schon mehr gesagt, als mir zusteht“, bemerkte Eve reumütig. „Und überhaupt rufe ich ja an, um zu hören, wie es dir und Liam geht. Ich weiß, dass ihr kaltes Wetter nicht gewöhnt seid, und als ich den Wetterbericht sah, musste ich einfach anrufen.“
„Uns geht’s gut“, versicherte Sierra. Wenn sie Eve besser gekannt hätte, hätte sie ihr vielleicht von ihren Sorgen wegen Liam erzählt, der Geister in seinem Zimmer sah. Noch immer wollte sie die neue Ärztin anrufen, aber bei diesem Wetter konnten sie unmöglich zu einem Termin nach Flagstaff fahren.
„Das klingt ein bisschen zögerlich“, erwiderte Eve. Offenbar ließ sie sich nicht so leicht täuschen. Immerhin führte sie die Geschäfte von McKettrickCo, und hunderte Mitarbeiter hörten auf sie.
Sierra lachte, eher nervös als amüsiert. „Liam behauptet, dass es im Haus spukt.“
„Ach das“, antwortete Eve, und sie hörte sich geradezu erleichtert an.
„Ach das?“, hakte Sierra nach und richtete sich auf.
„Die sind harmlos. Die Geister, meine ich. Falls es welche sind.“
„Du weißt von den Geistern?“
Ihre Mutter lachte. „Aber sicher weiß ich Bescheid. Ich bin schließlich in dem Haus aufgewachsen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob es wirklich Geister sind. Für mich waren es immer eher Mitbewohner. Ich hatte das Gefühl, dass sie - die anderen Personen - so lebendig waren wie ich. Und dass sie mindestens genauso überrascht
Weitere Kostenlose Bücher