Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
antwortete sie. »Ich werde es auch den Kolleginnen der Tagschicht sagen …«
»Also?«, fragte Madison, als sie am Ende dieses absurden Abends vor Winters Wohnung standen. »Willst du mir jetzt endlich sagen, was los ist?«
Winter verzog unwirsch das Gesicht.
»Gar nichts«, versuchte sie sich herauszureden.
Madison hätte sie am liebsten geschüttelt.
»Ach, hör doch auf, Win!«, knurrte sie schließlich. »Du bist stockbesoffen und trotzdem immer noch angespannt. Wieso?«
Winter fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Ich hatte einfach eine Luftveränderung nötig«, antwortete sie knapp.
Madison brauchte nicht lang, um zu verstehen.
»Du bist abgehauen?«, fragte sie ungläubig. »Sag, ist es so, Winter?«
Sie konnte die Bestätigung von ihrem Gesicht ablesen.
»Bist du übergeschnappt?«, schimpfte sie dann. »Du bist einfach weggelaufen, ohne ein Wort zu sagen? Was hast du dir dabei gedacht?«
Winters Blick war stur auf die Spitzen ihrer nicht mehr weißen All Stars gerichtet. Madison verlor jetzt vollends die Geduld.
»Win, sie machen sich bestimmt furchtbare Sorgen! Du kannst doch nicht einfach mir nichts, dir nichts verschwinden …«
Und Winter war nicht einmal der Typ, der so etwas tat, musste sie sich in Erinnerung rufen.
»Wieso?«
Winter steckte mit zitternden Händen den Hausschlüssel ins Schloss und drehte ihn so vorsichtig um, als würde ihr Leben von dieser Bewegung abhängen.
»Hör auf, Stress zu machen, Mad!«, zischelte sie, als die Tür endlich aufging.
Madisons fröhliches Gesicht verdüsterte sich.
Winter legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Nur diese eine Nacht, Mad«, bat sie etwas sanfter. »Lass mir nur diese Nacht, um darüber nachzudenken, was ich tun will. Morgen erkläre ich dir alles, was ich kann, aber bis dahin sag bitte niemandem etwas! Bitte!«
Madison seufzte.
Als ihre Freundin weg war, überfiel Winter eine tiefe Einsamkeit.
Sie drehte den Schlüssel, bis die Tür verriegelt war, und ließ sich dann zu Boden gleiten.
Die Wohnung war verlassen und stockdunkel, noch nie war sie Winter so trist vorgekommen.
Die Tränen begannen zu fließen, und sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Und jetzt?«, fragte sie die schweigenden Wände.
Sie bog den Kopf nach hinten und fixierte den einzigen Lichtstrahl, der durch die Fensterläden drang.
D er Lärm des Londoner Straßenverkehrs drang in ihre Träume ein. Er war störend und hörte sich irgendwie falsch an.
Winter öffnete langsam die Augen und wurde sich bewusst, dass sie auf dem Fußboden im Flur eingeschlafen war. Schwerfällig erhob sie sich, alles tat ihr weh.
Ihr Kopf füllte sich unvermittelt wieder mit Albträumen und Erinnerungen. Die Vampire, die Nox, das Blut im Kelch …
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Unter enormem Kraftaufwand verjagte Winter die inneren Bilder und konzentrierte sich auf das, was sie umgab.
Das Erste, was in ihr Blickfeld geriet, war ein bleiches Spinnennetz, das vom Türrahmen zwischen Flur und Wohnzimmer herunterhing.
Sie schaltete das Licht an und betrachtete das Spinnennetz. Nun sah sie auch die kleine Spinne, die auf ihren zarten Beinchen über die Spinnfäden krabbelte.
Winter beneidete sie. Niemand hatte sie gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Sie war immer noch da, wo ihre Großmutter wahrscheinlich vor Monaten vergessen hatte abzustauben, und hatte sich hier gut eingerichtet.
Sie fühlte beinahe Wut darüber.
In dieser Wohnung hatte sie die letzten fünf Jahre ihres Lebens verbracht, und nun war sie traurig, weil es nicht mehr ihr Zuhause war.
Alles war unerklärlich anders,
sie
war anders.
Winter ging in die Küche, ganz automatisch. Sie wollte gerade den Kühlschrank öffnen, als ihr mit einem Stich ins Herz in den Sinn kam, dass ja niemand mehr hier wohnte.
Seufzend kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Sie zögerte ein paar Augenblicke, dann ging sie weiter durch den engen Flur.
Die Wohnung war noch genau so, wie sie sie verlassen hatte. Für einen Moment meinte sie fast, die Stimme ihrer Großmutter zu hören, die beim Wäscheaufhängen im Bad sang.
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht an ihre Oma denken …
Als sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, stieg ihr ein strenger Geruch von abgestandener Luft in die Nase.
Winter schaltete das Licht an. Ihr schien, als würde sie ein altes Foto betrachten.
Jeder Gegenstand erzählte von ihr: das Poster der Band Apocalyptica, das sie mit einer Wette gegen Kenneth
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