Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
Sarkasmus einfach überhören musste.
»Scotland Yard«, verkündete er deshalb, als hätte sie nichts gesagt. »Ich habe einen unserer Kontakte angerufen. Er erwartet dich in zwanzig Minuten im McDonald’s in der Victoria Street.«
Die Anwältin fluchte innerlich. Im Londoner Morgenverkehr bedeutete das praktisch, dass sie sich dahin beamen musste.
»Bin schon unterwegs. Wir hören uns später.«
Sie machte die Handtasche zu und eilte davon.
Sehr geehrte Mrs Starr,
im Namen des Rats möchte ich mich noch einmal für Ihre hervorragende Mitarbeit bedanken.
Winters Aufmerksamkeit war von der strahlenden Sonne auf dem Umschlag erregt worden. Das Wappen der Familien.
Dass ihre Großmutter über die Situation Bescheid gewusst hatte, war nun kein Geheimnis mehr. Ein Bündel alter, an sie adressierter Briefe ganz unten in einer Schublade warf aber die Frage auf, wie viel sie gewusst hatte.
Ihre »hervorragende Mitarbeit«? Irgendetwas sagte ihr, dass das keine Höflichkeitsfloskel war.
Die Augen des Mädchens flogen rasch über die Zeilen. Sie waren von Hand geschrieben, mit der ordentlichen Schrift einer gewissenhaften Person.
Der Inhalt Ihrer Berichte ist äußerst zufriedenstellend. Für die Zukunft empfehlen wir Ihnen, nicht von der bisherigen Linie abzuweichen, sondern so weiterzumachen wie bisher.
Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung verbleibe ich
Aeron Fennah
Winter griff nach dem nächsten Umschlag.
Derselbe Stil, dieselbe Schrift.
Sehr geehrte Mrs Starr,
unsere Beobachter melden Unruhen von ungewissem Ausmaß in der Nähe von Edinburgh.
Wir hegen keine Zweifel an Ihrer strikten Einhaltung der Linie und halten es deshalb für überflüssig, Sie auf die Notwendigkeit strengster Vertraulichkeit hinzuweisen. Sollten neue Anweisungen erfolgen, werden sie Ihnen, soweit notwendig, auf die übliche Weise zugestellt werden.
Mit freundlichen Grüßen
Aeron Fennah
Ihre Handflächen waren schweißnass. In der Vergangenheit ihrer Großmutter herumzuwühlen war ihr unangenehm, doch sie sagte sich immer wieder, dass sie ein Recht darauf hatte.
Der folgende Brief begann wie die anderen.
Winter war versucht, ihn ungelesen wegzulegen. Die Angelegenheiten der Familien gingen sie nichts an. Aus welchem Grund sollte sie in die Privatsphäre ihrer Großmutter dringen, die diese nie mit ihr hatte teilen wollen?
Es ist auch meine Geschichte
, sagte sie sich entnervt.
Und begann zu lesen.
Ich wiederhole: Das Mädchen darf nichts wissen, bis unser Rat den Zeitpunkt für angebracht hält.
Ich vertraue auf Ihre uneingeschränkte Zusammenarbeit und grüße Sie.
Aeron Fennah
Winters Herzschlag hatte sich beschleunigt. Das vergilbte Papier hatte getäuscht. Sie prüfte die Daten und entdeckte, dass die Briefe keineswegs so alt waren, wie sie erwartet hatte.
September 2000, April 2001, Dezember 2007.
Das »Mädchen« musste demnach sie selbst sein.
Winter begann, alle Briefe nach dem frühesten Datum zu durchsuchen.
November 1997.
Sie war damals ein Jahr alt. Weniger als zwei Monate nach dem Tod ihrer Eltern.
Sehr geehrte Mrs Starr,
aufgrund der Beschlussfassung des Rats haben wir die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass Ihrem Antrag stattgegeben wurde.
Rechtsanwältin Susan Bray wird in Ihrem Namen und unter unserer Supervision die notwendigen amtlichen Vorgänge erledigen, um die Adoption rechtskräftig zu machen.
Die einzige Bedingung, die unser Rat stellt, besteht darin, dass Sie beide sich von den Familien und dem Orden entfernen. Wir wünschen zu diesem Zweck und zu Eurer eigenen Sicherheit, dass das Mädchen im Unwissen über die eigene Herkunft aufwachsen möge, damit jedes gegenwärtige und zukünftige Risiko vermieden werden kann. Wir behalten uns des Weiteren das Recht vor, anderslautende Weisungen zu erteilen, sollte die Situation es notwendig machen.
Mit der Bitte, die Schriftstücke unserer Korrespondenz nicht aufzubewahren, verbleiben wir mit den besten Empfehlungen und freundlichen Grüßen …
Unter diesem Brief waren zwei Unterschriften, Aeron Fennah und Alaric Lochinvar, doch Winter konnte sie fast nicht lesen. Eine dicke Träne kullerte ihr über die Wange, fiel auf das Blatt und bleichte die Tinte aus.
Es tat so verdammt weh, doch sie musste es wissen.
Winter fand auf den Seiten die Daten jedes ihrer Umzüge, Kommentare über ihre Leistungen, zum Verhalten der Großmutter, über Dutzende kleiner, unbedeutender Vorfälle.
Mit fahrigen Gesten durchwühlte sie die Schublade
Weitere Kostenlose Bücher