Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
Gefühle haben
?
Als Vaughans Auto vor dem Haus der Chiplins anhielt, verfehlte Gareth den Korbwurf.
Er fing den Ball wieder auf, dribbelte ihn vor sich hin und beobachtete dabei das Mädchen, das im Licht der Straßenlaterne ausstieg, bis es an der Eingangstür war und im Haus verschwand.
Dann ging er ohne zu überlegen zum Auto.
»Darf man wissen, was zum Teufel der Orden von ihr will?«
Darran Vaughan gefiel es nicht, wenn man ruppig umging mit seinem Auto, und er warf einen kritischen Blick auf die Hand, die der Junge nicht gerade behutsam auf das Autodach gelegt hatte.
»Sicherstellen, dass sie heil und ganz nach Hause kommt«, erwiderte er durch das halb geöffnete Autofenster.
Er war zum Glück nicht nachtragend, sonst hätte Gareth Chiplin in seinem Fach einen drastischen Zensurenabfall riskiert.
»Weißt du, irgendjemandem ist es gelungen, sie zum Weinen zu bringen.«
Vaughan verfehlte nur selten einen Wurf. Gareth konnte seine Betroffenheit nicht verbergen und schluckte.
»Die Angelegenheit geht Sie nichts an. Kümmern Sie sich lieber um Ihren dämlichen Klub.«
Vaughan warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Was willst du damit sagen?«
Erst da wurde Gareth sich bewusst, was er im Begriff war zu tun.
»Nichts. Lassen wir das … Wir sehen uns in der Schule.«
Er wandte sich ab und hoffte, dass ein Dribbling ausreichen würde, um die Wut verrauchen zu lassen und ihn am Reden zu hindern.
A ls er am Bahnhof von Cae Mefus aus dem Zug stieg, betrachtete Iago Rhoser das walisische Panorama. Seine Narbe, ein Vermächtnis von Soldier, brannte unentwegt zwischen Kinn und Auge.
Wo auch immer du bist, bete darum, dass deine Tochter sich sehr, sehr gut benimmt
, befahl er Soldiers Geist und machte sich auf den Weg.
Er war verdammt neugierig zu erfahren, was in dieser Gegend vor sich ging.
Winter schrieb fast eine ganze Stunde lang, strich jedes Wort mehrfach durch und schrieb es wieder hin, ersetzte es, strich es erneut durch – bis sie schließlich aufgab, die Schranken ihrer Rationalität niederriss und einfach drauflosschrieb, was ihr durch den Kopf ging.
Lieber Rhys,
ich bin es leid, traurig zu sein, ich kann nichts daran ändern.
Es ist mir egal, was du bist und was ich bin, denn ich kann nicht verleugnen, was ich fühle.
Ich weiß allerdings auch, dass wir keine Alternative haben. Gegen Regeln zu verstoßen, die ich nicht einmal verstehe, ist ein Risiko, das wir uns nicht erlauben können. Vor allem kann ich nicht zulassen, dass du dieses Risiko auf dich nimmst. Das ist das Einzige, was ich weiß … Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, glücklich zu sein, und ich werde die Suche danach nicht aufgeben. Aber du hattest recht: Offenbar existiert sie nicht.
Du wirst mir mehr fehlen, als ich ertragen kann.
Winter
Sie zog es vor, den Brief nicht mehr durchzulesen, steckte das Blatt in einen Umschlag und schrieb den Namen des Empfängers drauf.
Sie warf sich aufs Bett und starrte mit einem abwesenden Gesichtsausdruck an die Decke ihres Zimmers.
Vielleicht würde sie nie den Mut aufbringen, Rhys den Brief auszuhändigen, aber sie hatte es satt, tatenlos abzuwarten. Es lief wirklich alles schief. Ihrer Großmutter ging es schlecht, sie hatte Gareth lieb gewonnen, doch dann seine Zuneigung verloren, es war ihr gelungen, Madison zu vernachlässigen und anzulügen. Und sich völlig zu isolieren.
Sie fühlte sich traurig, verloren und allein, und sie hatte den entmutigenden Eindruck, nicht einmal sich selbst zu kennen.
Während sie verzweifelt einzuschlafen versuchte, dachte Winter, dass das Leben wirklich ungerecht war.
D er Frühling brachte die Sonne zurück. Winter hatte diese Jahreszeit immer geliebt, war gern durch die Düfte, die Farben geschlendert. Für sie gab es nichts Schöneres, als im Hyde Park in das sanfte, noch etwas zaghafte Licht einzutauchen. In diesem Jahr beobachtete sie den herannahenden Frühling zum ersten Mal durch die düstere Brille der Trübseligkeit.
Sie war unruhig, immer auf der Suche nach etwas, das sie ablenken könnte. Sie hatte das Tempo ihrer Recherchen verlangsamt, hielt sich so wenig wie möglich in der Schule auf, um Rhys nicht über den Weg zu laufen, und den Aufenthalt im Hause Chiplin beschränkte sie auf das Allernötigste.
An dem Nachmittag kam Winter an der Buchhandlung vorbei, blieb kurz stehen und warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, bis der Kurs anfing. In London hätte sie ihr Vorhaben sofort aufgegeben, denn
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