Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
1946 verhaftet, in der Sowjetunion verschwunden; Erich-Otto Paepke, Gerd-Manfred Ahrenholz, Hans Lücht, Hermann Jansen, Studentenpfarrer Joachim Reincke - jeweils 25 Jahre Zwangsarbeit usw. usw.
Später hörte ich auch von den vielen Jugendlichen, die unter der aberwitzigen Beschuldigung, »Werwölfe« zu sein, als angebliche nationalsozialistische Untergrundkämpfer in Speziallagern wie Buchenwald, Sachsenhausen und Fünfeichen in Mecklenburg verschwanden, die die Sowjets von den Nationalsozialisten übernommen hatten.
Nach dem Krieg war es zweifellos gerechtfertigt, führende Nationalsozialisten oder Funktionsträger von SS, SA, Gestapo, des Sicherheitsdienstes (SD) und des politischen Führungskorps zu verhaften und zu verurteilen. Die meisten Verhafteten wurden aber willkürlich Opfer des Regimes, waren verleumdet, aus unterschiedlichen Gründen denunziert worden. Oft handelte es sich um relativ untergeordnete NS-Mitläufer und natürlich um Gegner des stalinistischen Systems. Es traf auch völlig Unschuldige wie den Nazi-Gegner und evangelischen Theologen Ernst Lohmeyer. Anfang der dreißiger Jahre war er Professor und Rektor an der Universität Breslau gewesen, 1935 wegen seines demonstrativen Eintretens für jüdische Kollegen - unter anderem für Martin Buber - an die Universität Greifswald strafversetzt worden. Unmittelbar nach Kriegsende war ihm das Amt des Universitätsrektors
angetragen worden, doch im Februar 1946 wurde er aus unbekannten Gründen vom NKWD verhaftet, wenige Tage später seines Amtes enthoben und am 19. September 1946 erschossen. Fünfzig Jahre später - 1996 - wurde das Todesurteil gegen ihn in Moskau formell aufgehoben.
Uns waren derartige Fälle damals nicht bekannt. Wir wussten nur: Vater war weder ein Funktionsträger in der NSDAP gewesen, noch hatte er der Gestapo, der SS oder SA angehört. Er hatte in der DDR keine Sabotage und keine antisowjetische Propaganda betrieben, er hatte keinen Fluchtversuch unternommen, und er besaß keine Waffen. Warum also hatte man ihn abgeholt?
Mutter und Oma Antonie riefen an jenem Tag sofort auf der Neptun-Werft an; dort war von einem Unfall nichts bekannt. Sie liefen zur Staatssicherheit und zur Kriminalpolizei. Sie gaben eine Vermisstenanzeige auf und fragten täglich auf den Revieren der Volkspolizei nach. Überall zuckte man die Schultern. Manchmal hörten sie: »Wenn die Russen Ihren Mann geholt haben, können wir nichts machen.«
Oma Antonie wollte sich mit dieser Auskunft nicht zufriedengeben. Anfang Juli schrieb sie eine Eingabe an den Staatspräsidenten Wilhelm Pieck und schickte, als sie keine Antwort erhielt, im September eine zweite hinterher: »Voller Verzweiflung und voller Vertrauen bitte ich Sie, mir zu helfen, meinen Sohn zu finden. Meine Schwiegertochter ist gesundheitlich völlig zusammengebrochen, und ich suche meinen einzigen Sohn.« Sie schrieb an den Staatssicherheitsdienst in Schwerin, den »Ersten Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft« in Rostock, an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz/Delegation in Deutschland. Sie schickte meine Mutter zum Sohn des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, der in Wustrow Urlaub machte, und suchte selbst den Kontakt zu Gerhart Eisler, dem Verantwortlichen der DDR-Regierung für Rundfunk und Presse, als dieser sich in Ahrenshoop aufhielt.
Wochenlang fuhr sie von Gefängnis zu Gefängnis, von Mecklenburg bis Sachsen, von Rostock bis Bautzen. Doch nirgends war
ein Joachim Gauck bekannt. Angeblich auch nicht in Schwerin, obwohl er hier nach kurzem Aufenthalt in Rostock einsaß: in dem Justizgebäude mit angegliedertem Gefängnis am Demmlerplatz, dem ehemaligen Sitz der Gestapo, den der sowjetische Geheimdienst NKWD übernommen hatte. Die Haftanstalt am Demmlerplatz wurde genauso berüchtigt wie das Gefängnis in der Bautzener Straße in Dresden oder in der Leistikowstraße in Potsdam. Wohl 40000 bis 50000 Menschen sind durch die sowjetischen Militärtribunale (SMT) verurteilt worden, sogar noch nach dem 7. Oktober 1949, als Rechtsprechung und Strafvollzug im Prinzip bereits an die neu gegründete DDR übergeben worden waren.
Mein Vater erhielt zweimal 25 Jahre.
Die ersten 25 Jahre wegen Spionage für einen Brief, den er von Fritz Löbau erhalten hatte, seinem ehemaligen Vorgesetzten auf der Rosslauer Werft, mit dem er 1947 Schnellboote für die Sowjets erprobt hatte. Löbau hatte sich in den Westen abgesetzt und meinen Vater zu einem Besuch nach West-Berlin eingeladen, fünfzig
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