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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Mark Reisegeld lagen dem Brief bei. Obwohl mein Vater nicht reagiert hatte, wurde ihm die Einladung beziehungsweise diese Bekanntschaft zum Verhängnis; Löbau soll mit dem französischen Geheimdienst usammengearbeitet haben.
    Die zweiten 25 Jahre erhielt mein Vater wegen angeblicher antisowjetischer Hetze. Bei einer Hausdurchsuchung war eine legal vom Postzeitungsvertrieb zugestellte nautische Fachzeitschrift aus dem Westen gefunden worden. Die Vorwürfe waren willkürlich und folgten dem Prinzip: Hat man erst die Person, so findet sich auch ein Delikt. Genauso gut hätte mein Vater für den Besitz von alten Illustrierten aus der NS-Zeit verurteilt werden können, auf die man sicherlich in seinem Bücherschrank noch hätte stoßen können.
    Ausgerechnet der Satz aus alten Zeiten »Recht muss doch Recht bleiben« schmückte den Eingang des Saals, in dem das Militärtribunal in Schwerin tagte. Große Porträtfotos von Lenin und Stalin hingen an den Wänden, Tische und Wände waren mit roten Fahnen behängt. Das Gericht bestand aus drei Offizieren, anwesend
war außerdem ein Dolmetscher. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen, ein Verteidiger nicht zugelassen, Entlastungszeugen konnten nicht angeführt werden.
    In der Regel wurden die Verurteilten in die Sowjetunion deportiert - wo sie in den Gulag kamen oder in Moskau hingerichtet wurden -, oder man überstellte sie in DDR-Speziallager wie das berüchtigte »gelbe Elend« in Bautzen. Mein Vater kam in das südliche Sibirien. Im Februar 1952 gelangte er nach endloser Zugfahrt mit Zwischenaufenthalten in den Gefängnissen von Brest, Orel, Moskau und Nowosibirsk in den Großraum des Baikal-Sees, in den Rayon Tajschet nahe der Stadt Ulan Ude. In dieser Taiga mit lockerem Waldbestand musste er Bäume fällen und daraus Balken oder schwere Schwellen zuschneiden. Viele Häftlinge überlebten die Tortur nicht. Selbst harte Bestrafungen schreckten sie oft nicht von Selbstverstümmelungen ab, Hauptsache, man kam nicht in die Knochenmühle im Wald oder im Bergwerk. Im Sommer, so erzählte Vater später, seien die Temperaturen auf über dreißig Grad gestiegen, im Winter auf unter dreißig Grad gefallen. Als die Quecksilbersäule einmal sogar auf minus 52 Grad sank, wurden die Häftlinge von der Arbeit befreit. Nach einem Jahr war mein Vater so abgemagert, dass er »invalidisiert« wurde und leichtere Arbeit erhielt.
    Wir wussten nichts von alledem. An Sibirien dachten wir nicht. Wenn er lebt, so die Vermutung, sitzt er in Bautzen. Dass er nicht leben könnte, haben Mutter und Oma Antonie vor uns Kindern nicht erörtert, obwohl sie durchaus mit dieser Möglichkeit rechneten. »Ich bitte Sie nun nochmals um Ihre Hilfe«, schrieb Antonie Gauck am 5. November 1951, nachdem sie zum sechsten Mal beim Versuch, persönlich bei Staatspräsident Wilhelm Pieck vorsprechen zu dürfen, abgewiesen worden war. »Selbst wenn mein Sohn nach dem Menschenraub grausig ermordet wäre, müsste es doch auf Ihre Anordnung dem Polizeiapparat möglich sein, den Fall aufzuklären.«
    Ich begann, für meinen Vater zu beten. Unsere Familie war nicht sonderlich religiös, schlicht norddeutsch protestantisch, tägliche
Gebete gehörten keineswegs zu unserer Gewohnheit. Aber ich zwang mich, jeden Abend in meinem Kinderzimmer an den Abwesenden zu denken. Nicht, dass ich eine besonders enge Bindung an ihn gehabt hätte, aber leben sollte er doch, und wiederkommen sollte er auch. Meine Mutter war so unglücklich. Manchmal starrte sie einfach in die Luft, Tränen liefen ihr dann über das Gesicht. Wir hatten sie vorher nie weinen sehen. Mehrfach wurde sie von der Staatssicherheit vorgeladen und gedrängt: »Lassen Sie sich scheiden, Ihr Mann ist ein Spion.« Sie ließ sich nicht scheiden, aber ihre Angst wuchs. Als ihre Tochter Marianne über drei Jahrzehnte später einmal zur Stasi gerufen wurde, geriet sie in so panische Angst, dass sie zitterte.
    Auch andere wurden damals abgeholt. Aber ich wusste nichts von Arno Esch, jenem jungen Studenten der Rechtswissenschaften, der gesagt hatte: »Mein Vaterland ist die Freiheit.« Erst viel später lernte ich, dass Esch, ein Flüchtlingskind aus Memel, Gründer der Betriebsgruppe der in der DDR erlaubten Liberal-Demokratischen Partei an der Universität Rostock gewesen war. Im Juli 1950 wurde er mit drei oder vier anderen Kommilitonen zum Tode verurteilt, am 24. Juli 1951 im Alter von 23 Jahren in der Lubljanka erschossen, im zentralen Gefängnis des sowjetischen

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