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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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selbstverständlich, dass wir weder in die Pionierorganisation noch später in die FDJ eintraten. Es gab aber eine Zeit, da führte meine Schwester Marianne mit Mutter die Debatte: »Warum darf ich kein Mitglied werden?« Sie empfand sich als ausgeschlossen und verstand nicht, warum sie nicht auch zu den Veranstaltungen gehen sollte wie ihre Freundinnen, deren Eltern dem System ähnlich distanziert gegenüberstanden wie unsere. Doch in dieser Frage duldeten alle drei Frauen, die in unserem Rostocker Haushalt erziehungsberechtigt waren - unsere
Mutter, Großmutter Warremann und Tante Hilde, Mutters Schwägerin - keinerlei Kompromisse. Als ich beispielsweise aus der Grundschule mit einem sehr guten Zeugnis nach Hause kam und voller Stolz das Abzeichen für gutes Wissen trug, verpasste mir meine Mutter spontan eine Ohrfeige. Sie glaubte, ich sei den Pionieren beigetreten, denn auf dem Abzeichen prangten die Initialen JP. Dabei war es tatsächlich nur eine Auszeichnung für gutes Wissen gewesen! Schlimmeres widerfuhr meiner kleinen Schwester Sabine. Als sie eines Nachmittags strahlend von einer Weihnachtsfeier der Pioniere zurückkehrte, deren Besuch ihr zu Hause untersagt worden war, stürzte Tante Hilde auf sie zu, entriss ihr die Geschenke, warf diese zu Boden und trampelte mit den Füßen darauf herum. »Du nimmst Geschenke von den Pionieren an - und deinen Vater haben sie abgeholt!«
    Es gab fest umrissene Grenzen des Anstands. »Wenn euch jemand fragt, wann ihr in die Pioniere eintretet«, schärfte Mutter uns Kindern wiederholt ein, »dann antwortet ihr: ›Ihr könnt wieder nachfragen, wenn wir wissen, wo unser Vater ist und wann er wiederkommt.‹«
    Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form von Fraternisierung mit dem System aus. Das machen wir nicht, vermittelte uns die Mutter unmissverständlich. Ich hatte dieses Gebot so verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die Anständigen. Intuitiv wehrte ich das Werben des Regimes für die Akzeptanz seiner moralischen und politischen Ziele ab, denn über uns hatte es Leid und Unrecht gebracht.
    Ich habe Vaters Schicksal nie verheimlicht. Schweigen wäre mir wie Verrat vorgekommen. Mitunter habe ich auf sein Schicksal sogar anklagend verwiesen. Wenn in den Schulstunden Lieder und Parolen allzu verlogen waren oder die angeblichen Aufbauleistungen des Sozialismus gefeiert wurden von den »Neulehrern«, die pädagogisch häufig wenig kompetent, dafür aber politisch
umso engagierter waren, dann wurden Wut und Empörung in mir übermächtig. Ein oder zwei Mal verlor ich sogar die Beherrschung, wollte nicht mehr argumentieren, sondern nur noch anklagen: »Alles Lüge!« Meist traf mich dann ein arroganter und strafender Blick, der mich zum Schweigen bringen sollte.
    Je nachdem, ob der Lehrer nur pro forma Kommunist war und Mitleid mit dem Jugendlichen hatte oder ob er zu den »Überzeugten« gehörte, vor denen man sich vorsehen musste, fiel der nächste Satz aus. Man solle doch den Mund halten und den Unterricht nicht stören, sagten die einen. Andere sprachen einen Tadel aus oder gaben eine schlechte Zensur in Betragen. Unser Geschichtslehrer, den wir alle sehr gern mochten, nahm mich in der sechsten Klasse nach einem derartigen Anfall beiseite und schrieb mir einen Satz auf, den ich nicht verstand: Si tacuisses, philosophus mansisses (Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben). Meine Mutter nickte, als sie das las. Sie hatte sich den Satz von einem Bekannten übersetzen lassen. Aber ich war nicht sicher, ob sie wirklich zustimmte. Einerseits wünschte sie, ich wäre ein guter Schüler und würde keine Schande über sie bringen. Andererseits sah sie einen Mut in mir, den sie schätzte - wenn er nicht als schierer Übermut und jugendliches Imponiergehabe daherkam. Vielleicht aber ahnte sie, dass im Gewand pubertärer Dreistigkeiten der Jugendliche Schritt für Schritt die Fähigkeit zum Protest gegen Normen und zur Auflehnung für die Wahrheit erlangte. In einer Welt der Jasager musste es die geben, die es wagten, nein zu sagen oder wenigstens nein zu tun.
    Ich war ein ziemlich großmäuliger Schüler, der seiner pubertären Aufmüpfigkeit wahrscheinlich weniger Schranken setzte als andere, weil ich das Recht und die

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