Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Geheimdienstes in Moskau.
Ich kannte auch Karl-Alfred Gedowsky nicht, Sport-und Germanistikstudent an der Rostocker Universität, Vorsitzender der Hochschulsportgemeinschaft. Er hatte sich in West-Berlin Literatur besorgt, die in der DDR verboten war: »Wir wollten den Studenten zeigen«, sagte er im Schlusswort seines Prozesses, »dass es neben dem historischen und dialektischen Materialismus noch eine andere Weltanschauung gibt. Um sich für eine Weltanschauung zu entscheiden, muss man auch die anderen kennen.« Gedowsky wurde am 6. Dezember zum Tode verurteilt. Seine Kommilitonen Brunhilde Albrecht, Otto Mehl, Gerald Joram und Alfred Gerlach mussten für jeweils 25 Jahre in Zwangsarbeitslager. Es ist für mich schamvoll, daran zu denken, wie wenig ich von anderen Verfolgten und Verfolgungen wusste.
Wenn ich, ein Opponent gegen kommunistisches Unrecht, diese und andere Verurteilte nicht kannte, was wollte ich dann von anderen erwarten? Sollte ich mich wundern, wenn später Kommilitonen das Schicksal meines Vaters für untypisch und unwahrscheinlich halten würden?
Ein Verhängnis kann man wohl nur ertragen, wenn man die Normalität wieder in Kraft setzt. Nach dem Schock forderte der Alltag sein Recht. So war das auch in meiner Familie.
Meine Mutter hatte als Seemannsfrau gelernt, wochen-, ja monatelang ohne Partner zurechtzukommen. An die Abwesenheit ihres Mannes war sie also gewöhnt, doch anders als früher kamen keine Briefe, und wir hatten keinen Ernährer mehr. Mutter erhielt laut Bewilligungsbescheid der Stadt Rostock eine monatliche Sozialunterstützung in Höhe von 45 Mark, dazu für ihre vier Kinder 142 und für die Miete 32 Mark, also insgesamt 219 Mark. Das reichte nicht zum Leben. Sie musste sich nach Arbeit umschauen, doch die Frau eines »Abgeholten« mit vier kleinen Kindern nahm nicht jeder. Da sie eine gut ausgebildete Bürokraft war, fand sie schließlich doch eine Stelle als Sekretärin und Sachbearbeiterin in der Deutschen Handelszentrale Leder, einem volkseigenen Großhandel in der Nähe unserer Wohnung.
Selbst in der Zeit, als wir von Bratkartoffeln und Milchsuppe lebten, hat meine Mutter ein offenes Haus geführt. Alle Besucher empfanden sie als herzlich. Wenn wir jemanden mitbrachten, bat sie den Gast zu Tisch und ließ ihn bei uns übernachten. Sie redete viel mit uns Kindern, war nicht übertrieben streng, allerdings auch wenig zärtlich. Sie war immer für uns da und verteidigte uns wie eine Löwin. War unsere Mutter auf der Arbeit, haben ihr Bruder Walter und seine Frau Hilde auf die kleineren Geschwister Eckart und Sabine aufgepasst. Großzügig und hilfsbereit waren auch Mutters Schwester Gerda und deren Mann Gerhard. In ihren Pfarrhäusern in Sanitz und später in Güstrow waren wir Kinder stets willkommen. Zudem erhielten wir Pakete mit Margarine, Kaffee, Öl, Kokosfett, harter Wurst, auch Büchern und Kleidung aus dem Westen - von Freunden oder uns völlig unbekannten
Menschen, die Patenschaften für ostdeutsche Familien übernommen hatten. Eine dieser Familien war die des späteren Regisseurs Hark Bohm.
Es gab geradezu rührende Anteilnahme. Die Heimatschriftstellerin Käthe Miethe vom Fischland brachte mir ihre Ziehharmonika. Ich sollte das Spiel so lernen wie mein Vater. Am ersten Heiligabend nach Vaters Verhaftung - es war schon dunkel - schickte unser rheinisch-katholischer Hausarzt Dr. Rüther seine Tochter Brigitte mit einem großen Korb voller Süßigkeiten und Überraschungen: frohe Weihnachten, liebe Familie Gauck!
So kamen wir über die Runden. An Armut waren wir gewöhnt. Wir hatten schon in der Nachkriegszeit gelernt, mit wenig auszukommen. Ich erinnere mich an den Heiligabend 1946. Schon eine Woche war der kleine Junge nicht mehr zur Schule gegangen, weil er keine Schuhe hatte. Doch unter dem Tannenbaum in der Weihnachtsstube bei den Großeltern Warremann stand unter den wenigen Geschenken unübersehbar ein Paar Schnürstiefel für mich, zwei Nummern zu groß, aber aus herrlichem braunen Leder. Tante Dodi hatte ein Paket geschickt, die mir unbekannte Dodi, eine Nichte von Oma Antonie, die nach Amerika ausgewandert war.
Dass man die Existenz einer Halbwaise führte, gehörte damals zur Normalität. Meine Schwester Marianne und ich gingen mit vielen Kindern zur Schule, die Waisen oder Halbwaisen waren, Kinder von Gefallenen, Vermissten, Kriegsgefangenen. Aber weder in meiner noch in Mariannes Klasse gab es einen Fall wie den meines Vaters. Es war
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