Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
Stolpe verteidigen gegen Kritiker, die meinten, er sei ein Mann der Stasi in der Kirche gewesen. Keineswegs zwingend war aber die frühe pauschale Exkulpierung. Mit meinem Landesbischof Christoph Stier vertrat ich damals die Ansicht, dass kirchliche Verlautbarungen weniger von Imagepflege gelenkt sein sollten als durch die christlichen Grundsätze von Buße und Umkehr.
    Das alles ist strafrechtlich nicht relevant, aber durchaus wichtig bei der Prüfung der Frage, ob eine Person für einen herausgehobenen Posten im öffentlichen Dienst geeignet ist oder nicht.
    Immer wieder wurde ins Gespräch gebracht, es gebe ein altes Zerwürfnis zwischen Stolpe und mir. Das ist eine Legende. Ich habe Stolpe in den achtziger Jahren kennen gelernt, als ich als Verantwortlicher für die Kirchentagsarbeit in Mecklenburg dem Präsidium des Kirchentages in der DDR angehörte. Ich habe ihn dort als geschickten Verhandlungsführer erlebt, eindrücklich blieb er mir in Erinnerung wegen seiner Rechtskenntnisse und als Meister von Strategien des Ausgleichs. Er besaß eine herausragende Begabung für die Politik der Vermittlung und die Gestaltung von Kompromissen. Ich hatte zu ihm Vertrauen und habe ihn auch ein Stück bewundert. Ich hatte kein Problem mit Stolpe, solange Stolpe kein Problem mit seiner Vergangenheit hatte.
    Stolpe konnte den Fall aussitzen, wobei hilfreich war, dass hohe und höchste Politiker ihn unterstützten. Der Bürger verlor schließlich den Überblick, welche Aussagen in verschiedenen Phasen des Konflikts gegeneinander standen, wer wann etwas verschwiegen oder die Wahrheit gesagt hatte. Die Maßstäbe bei der Beurteilung verschoben sich vollständig. De Maizière hatte gehen müssen, obwohl viel weniger gegen ihn vorlag. Stolpe blieb, obwohl er von vielen als belasteter angesehen wurde. Irgendwann wurden die Medien und die Öffentlichkeit der Sache müde und überdrüssig.
    Hatten kurz nach 1989 diejenigen die Debattenhoheit, die eine Erneuerung und somit die Entfernung von Belasteten befürworteten,
so gerieten später eher jene in die Vorhand, die die Überprüfungen für übertrieben, auch für eine gezielte Aktion gegen die Ostdeutschen hielten. Gefragt war jetzt nicht der Typ des revolutionären Erneuerers, sondern der Siegertyp mit paternalistischer Ausstrahlung, der die Wahlen zum Landtag gewann. Neue Interessen überlagerten alte Besorgnisse. Selbstkritik, innere Einkehr sowie die juristische Bearbeitung gerieten auf ein Nebengleis und die einstigen Oppositionellen nicht völlig, aber zunehmend in die Defensive.
    Auf die starke Abhängigkeit der Aufarbeitung von der aktuellen politischen Lage hat Theodor Adorno schon 1959 hingewiesen, als er schrieb, das Vergessen des Nationalsozialismus sei wohl »aus der allgemeinen gesellschaftliche Situation weit eher als aus der Psychopathologie« zu begreifen. Vergleichbares lässt sich für die DDR-Vergangenheit konstatieren.
    Die immer wieder aufflackernden Schlussstrich-Debatten erklären sich nicht unwesentlich aus den spezifischen Denkmustern eines gewissen linksliberalen Milieus, das die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur zu umgehen trachtete, um eigene Fehleinschätzungen nicht revidieren zu müssen. Dieses Milieu war belastet durch die Tatsache, dass es den repressiv-totalitären Charakter des realen Sozialismus meist als links und nicht als totalitär rezipiert hatte. »Wir wollten nicht antisowjetisch denken …«, charakterisierte Fritz J. Raddatz den Kern dieses Denkens und fragte, ob es »links« sei, zu schweigen, und »reaktionär«, offenbare Realitäten zu kritisieren. »Schweigen«, so seine Schlussfolgerung, »kann Lüge sein.« Ralph Giordano prägte den Begriff von der »Internationale der Einäugigen«.
    Systemkritische Ansätze wie die Totalitarismustheorie wurden damals ignoriert oder aus moralischen Gründen verworfen, die Bücher derer, die aus bitterer Erfahrung gelernt hatten, als »Renegatenliteratur« verachtet. Ende der 1960er Jahre waren auch viele, die keiner Kaderpartei angehörten und keineswegs der kommunistischen Ideologie anhingen, abgerückt von der sie umgebenden Demokratie. Sie hatten gegen den Vietnamkrieg protestiert, gegen Autoritäten an den Hochschulen, schließlich gegen verkrustete Strukturen in der Erziehung, der Moral, in den Geschlechterrollen.

    9. November 1999: Festakt im Deutschen Bundestag zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls mit Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und George Bush sen. Ich durfte reden

Weitere Kostenlose Bücher