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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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der sozialdemokratische Rechtswissenschaftler Gustav Radbruch gleich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte.
    Die so genannte Radbruchsche Formel geht davon aus, dass Verbrechen gegen Leib und Leben auch ohne eine entsprechende Rechtsnorm geahndet werden können, da Gesetze im Sinne der Menschlichkeit und des Naturrechts, im Sinne der Ideen der Freiheit und Demokratie des Abendlandes existieren. »Gesetzliches Unrecht«, so Radbruch, müsse einem »übergesetzlichen Recht« weichen, Schandgesetze seien für Richter nicht verbindlich. Auf dieser Grundlage wurden Verfahren gegen Mauerschützen und ihre Kommandeure eröffnet, denn trotz staatlicher Anordnung, so hieß es, sei die Rechtswidrigkeit der Tötung eines Flüchtlings für jeden Menschen erkennbar gewesen. Prozesse gegen die militärische Befehlsstruktur, den Nationalen Verteidigungsrat und ganz zuletzt gegen die Mitglieder des Politbüros als der obersten Kommandoinstanz des Staates folgten; zum größten Teil endeten sie mit Schuldsprüchen.
    Niemals hätte ich erwartet, dass der Gedanke des Schlussstrichs im wiedervereinigten Deutschland noch einmal ernsthaft in die Debatte geworfen, dass gar ein »Schlussgesetz« gefordert werden würde. Auch das einer Zeit der Verdrängung entliehene Vokabular hätte ich nicht erwartet, schon gar nicht in Kreisen der Linksliberalen.
    »Wir sind doch trotz der Re-Integration von NSEliten ein ganz demokratischer Staat geworden«, kommentierten Altlinke unseren sehr begrenzten Elitenwechsel nach 1990. Dabei waren sie in den sechziger Jahren selbst gegen autoritäre Strukturen und NS-belastete Politiker und Professoren Sturm gelaufen. Hatten die Linksliberalen dem konservativen Ministerpräsidenten Filbinger nicht einst um die Ohren gehauen, was sie nun selbst vertraten: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!«
    Von »Verständnis-Wessis« konnte man oft auch das vordergründig so großzügig entschuldende Argument hören: »Wer weiß, wie ich mich verhalten hätte.« Aus dem Munde derer, die ihre
eigene Regierung mit Argusaugen betrachteten, wenn es um Einschränkung von Freiheiten und erst recht um geheimdienstliche Maßnahmen ging, klang das befremdlich. Warum sagten sie nicht: »Ich hoffe, ich hätte standgehalten und mich gegen Anpassungsdruck, Verfolgung und Erpressung gewehrt«?
    Auch von konservativer Seite gab es Gegenwind. Mit Argumenten ähnlich wie denen im Jahre 1990, als sich im Westen ein grundsätzliches Unbehagen an der Veröffentlichung rechtswidrig gewonnener Dokumente geäußert hatte, wehrte sich einige Jahre später Bundeskanzler Helmut Kohl gegen die Nutzung von Dokumenten der Stasi zu seiner Person. Es waren Abhörprotokolle hochrangiger westdeutscher Politiker aufgetaucht, die der Aktenvernichtung in der Hauptverwaltung Aufklärung entgangen waren. Der Konflikt, in diesem Fall juristisch und nicht ideologisch ausgetragen, begann am Ende meiner Amtszeit.
    Nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz hatte Helmut Kohl als Person der Zeitgeschichte nicht das alleinige Recht an seinen Daten, auch Medien und Forschern hätten seine Akten offengestanden. Als er davon erfuhr, war er empört. So habe er sich unser Spezialgesetz nicht vorgestellt, teilte er mir in einem Telefonat mit. Er entschloss sich zur Klage, da er seine Grundrechte verletzt sah.
    Marianne Birthler hatte als meine Nachfolgerin den unangenehmen Rechtsstreit auszufechten. Das Verwaltungsgericht Berlin und auch das Bundesverwaltungsgericht gaben Kohl recht. Der Paragraph, der das Zugangsrecht für Medien und Forscher zu Akten von Personen der Zeitgeschichte regele, sei so auszulegen, dass immer, wenn eine Person nicht Mitarbeiter oder Begünstigter der Stasi gewesen sei, den Antragstellern kein Zugang gewährt werden dürfe.
    Das war für die Juristen der Behörde eine schwer nachvollziehbare Entscheidung. Im Einklang mit den wissenschaftlichen Kommentaren war die Gesetzesnorm bis dahin anders interpretiert worden: Der Zugang sei immer dann berechtigt, wenn die observierte Person als Person der Zeitgeschichte agiere, und sei nur dann zu verweigern, wenn die Person im Privatbereich observiert
worden sei. Ohnehin wurden bei allen Anträgen die privaten und intimen Sachverhalte nicht übermittelt; sie gehörten allein der observierten Person. So hätte es die Behörde auch bei Helmut Kohl gehalten, aber selbst das wollte er nicht dulden.
    Die Entscheidung der Gerichte war so, als hätte ein Jurist der Behörde einem Wissenschaftler

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